Am heutigen Donnerstag schaltet sich die Kanzlerin mit den 16 Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten zusammen, um weitere Maßnahmen in der Coronakrise abzustimmen. Man kann das am Anfang dieses Kommentars so nüchtern aufschreiben, denn Spektakuläres ist von dieser Runde nicht zu erwarten. Dafür kommt sie zu früh. Intern ist längst klar, dass zunächst abgewartet werden soll, wie sich die zaghaften Lockerungen, die es seit Mitte April gibt, auf die Zahl der Infizierten in Deutschland auswirken; die Schulöffnungen, die Öffnungen von Läden bis 800 Quadratmetern. Das alles flankiert von einer mittlerweile weitreichenden Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr und beim Einkauf.

Das Volk wird sich gedulden müssen.

Und doch ist diese Ministerpräsidentenrunde eine besondere. Sie ist, wenn man so will, die erste nach der Einlassung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Hier noch einmal das entscheidende Zitat aus dem „Tagesspiegel“, das Schäubles Vorspruch folgt, der Staat müsse für „bestmöglichen Gesundheitsschutz“ sorgen: „Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.“

Schäuble flankiert die zunehmende Ungeduld

Wer will, kann daraus eine Kritik am Handeln der Regierenden ableiten. Es ist nicht nur die unausgesprochene Frage, ob alles, was bislang getan wurde und demnächst geplant ist, noch verhältnismäßig ist. Es ist, im Prinzip, auch der Versuch einer Antwort auf die Frage, die eine Gesellschaft sich laut nicht zu stellen traut, nämlich: Wie viele Tote wollen/können wir uns leisten? 

Schäuble flankiert mit seiner Kritik die zunehmende Ungeduld vieler, die, auch angesichts immer noch niedriger Todeszahlen, der Ansicht sind, nun sei es aber mal genug mit den Beschränkungen.

Sie alle haben im Bundestagspräsidenten nun einen unverdächtigen Mitstreiter, der, anders als andere Politiker oder Lobbyisten, schon qua Amt als Bundestagspräsident nicht eine besondere Klientel im Blick hat, sondern das große Ganze – die Gesellschaft, den Staat. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet – im aktuellen stern gerade als „Der Nassforsche“ beschrieben – fühlt sich bereits in seinem permanenten Drängen nach Lockerung bestätigt. „Schäuble hat recht“, sagt Laschet.

Die Politik ist in einer heiklen Phase

Aber was heißt das? Für Merkel und die 16 Länderchefs und -chefinnen heißt das, auszuloten, was eine Gesellschaft im Wortsinne „ertragen“ kann. Die Politik ist da in einer heiklen Phase. Denn es bringt all jene in die Defensive, die, wie Merkel, die „ernste Lage“ noch lange nicht beendet sehen, exakt für diesen „Ernst“ aber mit jedem Tag der Krise weniger Belege bringen können. Sie sind Gefangene eines Paradoxon: Je stärker die (vermeintlichen oder tatsächlichen) Schutzmaßnahmen greifen, desto geringer sind die Todeszahlen, desto weniger ist plausibel, worin „der Ernst der Lage“ eigentlich besteht. Nur in einer Projektion des immer noch möglichen worst case

Das ist nach Wochen des Ausnahmezustands viel verlangt von einer Gesellschaft, die es nicht gelernt hat, Stillstand auszuhalten. Die Bereitschaft, sich in diesem Ausnahmezustand auf lange Zeit einzurichten, sinkt bei vielen. Gut möglich, dass Wolfgang Schäuble genau das bei seiner Aussage „zum Schutz des Lebens“ im Sinn hatte – dass der Geduldsfaden reißt und damit auch das unabdingbare Vertrauen einer Gesellschaft, das eine Regierung in einer Krise wie dieser braucht.

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