Das Wichtigste gleich vorweg: Das Polizeipräsidium Koblenz bezeichnete den angeblichen Fund von 600 Kinderleichen im von der Hochwasserkatastrophe getroffenen Ahrtal im Bundesland Rheinland-Pfalz als Fake News und warnte davor, „unreflektiert“ Meldungen im Internet zu verbreiten. Eine Sprecherin schrieb der DW: „Sammelfunde von Leichen sind Gerüchte, die im Umlauf sind. Diese wurden an keinem der genannten Orte festgestellt, ein Leichenfund dieser Größenordnung wurde bislang gar nicht an uns herangetragen.“  

Den Angaben der Polizei zufolge liegt die Zahl der Todesopfer nach der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz bei 135 (Stand 31.07.2021). 59 Menschen werden noch vermisst.  

Woher kommt diese Falschmeldung überhaupt?  

Soweit die DW es zurückverfolgen konnte, scheint ein Nachrichtenbericht eine entscheidende Rolle gespielt zu haben, der im Laufe der Zeit in einen völlig falschen Zusammenhang gestellt wurde.  

Vielfach verbreitet wurde und wird ein kurzer Ausschnitt aus einem TV-Bericht eines Reporters des deutschen Fernsehsenders n-tv, der die Behauptung belegen soll. 

Das fragliche Video zeigt 15 Sekunden einer morgendlichen Nachrichtensendung, abgefilmt von einem Fernseher. Der Reporter steht vor einen großen Berg aus Trümmern und berichtet über die Situation vor Ort.   

Er sagt im vollständigen Wortlaut: „… noch wohnen. Zum einen haben sie natürlich traumatische Dinge erlebt. Wir konnten mit Anwohnern sprechen, die Kinderleichen in ihren Häusern gefunden haben, die von irgendwo weiter her angeschwemmt wurden. Und zum anderen ist die Frage, wird es weitere Fluten geben? Sie sagen…“ Hier bricht die Aufnahme ab. 

Die DW bat n-tv um mehr Informationen. Ein Sprecher der Mediengruppe RTL Deutschland, zu dem der Sender gehört, bestätigte, der Clip zeige „einen stark verkürzten Ausschnitt“ eines Gesprächs, das am 22. Juli in der morgendlichen 9-Uhr-Nachrichtensendung gezeigt wurde. Der Reporter habe sich zu dem Zeitpunkt in Altenburg bei Altenahr befunden, einer besonders schwer von der Katastrophe betroffenen Region

Schon kurz nach Ausstrahlung wurde dieser kurze Ausschnitt geteilt. Im Screenshot ist ein Facebook-Post zu sehen, der an demselben Tag um 10.55 Uhr veröffentlicht wurde. Von 600 Leichen ist bei diesem Post zunächst aber noch keine Rede.

Screenshot eines Facebookbeitrags

Einer der ersten Beiträge in sozialen Netzwerken, die den Ausschnitt aus der Nachrichtensendung zeigen

Und doch wird schon bei diesen ersten Beiträgen mal mehr mal weniger deutlich, dass ein Zusammenhang hergestellt wird zu Verschwörungserzählungen, wie sie QAnon verbreitet: Demnach unternimmt eine Elite geheime, tödliche Experimente an Kindern, die in unterirdischen Bunkern oder Tunneln festgehalten werden. Das Hochwasser habe ihre Leichen nun zutage gefördert.  

Wann die Zahl 600 erstmals ins Spiel kommt, ist kaum mit Sicherheit festzustellen. Fakt ist: In der TV-Schalte ist davon keine Rede, der DW liegt die gesamte Aufnahme vor.  

Fake News geht um die Welt

Inzwischen wird die Meldung der angeblich Hunderten Kinderleichen auch international geteilt. Am 26. Juni taucht derselbe Videoschnipsel auf Youtube auf, versehen mit englischsprachigem Titel und der Beschreibung: Der deutsche Reporter würde selbst sagen, dass 600 Babyleichen durch die Flut angespült wurden.  

Screenshot eines Youtube-Videos

Der Englische Titel behauptet, der deutsche Reporter selbst würde von 600 Babyleichen sprechen

Dass einige Nutzer in den Kommentaren bereits die korrekte Übersetzung seiner Worte liefern, wird vielfach ignoriert.

Die DW fand neben den Beispielen auf Englisch unter anderem auch Posts auf Japanisch, Niederländisch und Spanisch in sozialen Medien und Foren. Ein Tweet auf Englisch behauptet, die TV-Schalte sei bewusst abgebrochen worden.  

Tweet zu der angeblich abgebrochenen Berichterstattung

Der User stellt in den Raum, der Reporter sei abgewürgt worden

Auch Faktenchecker Andre Wolf hat zu dieser Falschmeldung recherchiert und die Hintergründe zur QAnon-Bewegung umfangreich dargelegt (hinter Bezahlschranke). Er arbeitet für Mimikama, einen österreichischen Verein, der sich gegen Internetmissbrauch einsetzt und Gerüchte auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüft.  

Fall zeigt klassische Merkmale von Verschwörungsmythen 

Dass zu der Behauptung jeder Beweis fehlt, sagt Wolf, sei typisch für Verschwörungserzählungen, die oft nach dem Schema gestrickt seien: „Solange es keinen Gegenbeweis gibt, dann ist korrekt, was wir sagen“. Spätestens nach der Klarstellung durch die Polizei müssten diejenigen Beweise zu liefern, die den Mythos verbreiten, sagt Wolf im DW-Gespräch. 

Doch hier komme der sogenannte Selbstschutzmechanismus ins Spiel: Wer solche Nachrichten verbreitet und glaubt, glaube auch, „dass diese gesamte Geschichte vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden soll und dass diejenigen, die dementieren, natürlich Teil der Verschwörung sind“, erklärt Wolf. Die Richtigstellung der Behörden sei für Anhänger von Verschwörungsmythen eine Bestätigung ihrer eigenen Auffassung. Denn „diese Behörden würden das auf Teufel komm raus vertuschen wollen“. 

Screenshot eines Tweets auf Japanisch

Auch auf Japanisch werden die Falschmeldung und das Video weiterverbreitet

Babys und Kinder seien ein häufiges Motiv von Verschwörungsmythen, erklärt Wolf weiter. Damit entmenschliche man Feindbilder wie Eliten oder die Regierung: „Das Schlimmste, was ich einem Feindbild vorwerfen kann, ist, dass es Kinder quält oder gar tötet.“ Hier greife bei Menschen ein Schutzmechanismus, ein Urinstinkt. „Menschen neigen dazu, diese Meldungen zu teilen, sich hineinzusteigern, wütend zu werden.“ Somit sinke die Hemmschwelle für Anhänger, das Feindbild – also beispielsweise den Staat mit seinen Institutionen – anzugreifen. „Es soll dazu führen, dass Menschen sich radikalisieren.“  

Aber es wurden doch Kinderleichen gefunden, oder? 

Fakt ist: Bei den Aufräumarbeiten wurden im betroffenen Gebiet zwischen Trümmern immer wieder Tote gefunden. Der Sender n-tv berichtet an zwei Stellen von einzelnen Kinderleichen – in einem Interview mit einem von dem Hochwasser betroffenen Bundespolizisten im Ort Altenahr und in der besagten Videoschalte. 

Auf die Frage, auf welche Quellen sich der Fernseh-Reporter stützte, teilte n-tv der DW mit: „Vereinzelt haben uns Menschen über verstorbene Kinder berichtet. Eine dieser Betroffenen war (…) eine Anwohnerin aus Altenburg, die unserem Reporter ihre Erlebnisse aus der Nacht des Hochwassers schilderte und deren Schilderungen in die Berichterstattung eingeflossen sind.“  

Das Polizeipräsidium Koblenz wollte Berichte solcher vereinzelten Funde von Kinder- oder Babyleichen auf DW-Anfrage nicht kommentieren, da das ein sensibles Thema sei: „Bitte haben Sie Verständnis, dass wir aus Pietätsgründen keine Angaben zum genauen Auffindeort oder sonstigen personenbezogenen Daten der Verstorbenen machen können. Je nachdem ließen sich sonst unter Umständen Rückschlüsse zur Identität der Toten in den kleinen Ortschaften ziehen.“ 

Meldungen über eine große Anzahl von Kinderleichen entbehren jeder Grundlage. 

Hinweis: Um den Falschmeldungen nicht noch mehr Reichweite durch Klicks zu geben, verlinkt die DW bewusst nicht zu den Originalbeiträgen in sozialen Netzwerken, sondern zeigt anonymisierte Screenshots. 

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