An ihren klaren Worten Richtung Russland im Fall Nawalny muss sich die Kanzlerin jetzt messen lassen. Sie kann nicht mehr nichts tun. Merkel geht damit ein hohes Risiko ein.

Ein Kommentar von Michael Strempel, WDR

Das war ein Paukenschlag – von einer Frau, die sonst alles andere macht als auf die Pauke zu schlagen. Angela Merkel ist wirklich nicht berühmt für besonders deutliche Worte. Das Image hat sie nun korrigiert. Die Vergiftung Nawalnys sei zweifelsfrei, es sei ein Verbrechen, das sie auf das Allerschärfste verurteile. Es gebe Fragen, die Russland beantworten könne und beantworten müsse, die Welt warte darauf.

Worte, die für Merkel jetzt zu Maßstäben werden. Sie kann nicht mehr einfach nichts tun, sollte Russland den geforderten Beitrag zur Aufklärung des Mordanschlags auf Nawalny verweigern. Sie weiß auch, wie unwahrscheinlich eine echte Kooperation Russlands ist. Selten hat man die Kanzlerin außenpolitisch so entschlossen und gegenüber Russland nie so fordernd erlebt. Bliebe das ohne Konsequenzen, wäre sie außenpolitisch diskreditiert. 

Diplomatische Sticheleien sind zu wenig

Also führt an einer spürbaren Reaktion gegenüber Russland kaum noch ein Weg vorbei. Da gäbe es die üblichen diplomatischen Sticheleien: Ich weise ein paar Botschaftsmitarbeiter aus, die Russen machen dann dasselbe und Schwamm drüber. Das wird nicht reichen. Die Welt wartet auf Antworten – nicht nur von Russland, auch von Merkel und der Bundesregierung. Und Antworten, die Putin versteht, sind wirtschaftlich spürbar.

Schon mit der Entscheidung, Alexej Nawalny in Berlin wahrscheinlich das Leben zu retten, ist Deutschland zum führenden Gegenspieler der russischen Regierung in dieser Affäre geworden. Wenn die Bundesregierung jetzt auf allen Kanälen eine gemeinsame europäische Antwort fordert, ist klar: Es wird an Merkel selbst liegen, diese zustande zu bringen. Das ist das große Risiko, das die Kanzlerin gerade eingeht.

Merkels Trumpf

Es gibt innerhalb der EU einige Staaten, die ihr Verhältnis zu Russland nicht gefährden wollen. Viktor Orbans Ungarn zählt zum Beispiel dazu, Slowenien tickt ähnlich. Der Trumpf von Merkel ist, dass diese Staaten nicht allzu viel Verbündete in der EU haben. Außerdem wollen sie ihre Nähe zu Russland nicht zu offen zeigen, weil die Bevölkerung in Osteuropa noch schlechte Erinnerungen an die russische Vorherrschaft in ihren Ländern hat. Insofern könnte Merkel eine Chance haben, am Ende die einheitliche europäische Antwort zu Stande zu bekommen. Sicher ist das nicht.

Was wird aus Nord Stream 2?

In die Waagschale müsste auch das deutsch-russische Prestigeprojekt, die Gaspipeline Nord Stream 2. Ein Aus der Pipeline würde Putin hart treffen. Es wäre aber auch bitter für Merkel, denn das Projekt ist fast fertig, und ihr eigener Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern würde wirtschaftlich besonders davon profitieren. Aber wie einen Viktor Orban von Sanktionen überzeugen, wenn sie zu Hause nicht weh tun dürfen? Merkel hat im Fall Nawalny viel in die Waagschale geworfen. Sie hat jetzt auch einiges zu verlieren.

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Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 02. September 2020 um 22:15 Uhr.

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