Joe Biden führt derzeit in den meisten Umfragen zur US-Wahl. Warum er Trump im Weißen Haus ablösen könnte und was anders ist als 2016, erklärt Meinungsforscher Young im tagesschau.de-Interview.

tagesschau.de: In Ihren Umfragen führt Joe Biden deutlich vor Donald Trump. Wieviel Geld würden Sie persönlich derzeit auf Biden setzen?

Clifford Young: Wenn ich 100 Dollar hätte, würde ich 70 Dollar auf Biden und 30 auf Trump setzen. Die Chancen für Biden stehen gut. Aber es wird keinen Erdrutschsieg geben, sondern ein enges Ergebnis. Vieles wird davon abhängen, ob Trump die Basis nochmal so stark mobilisieren kann wie 2016.

Zur Person

Clifford Young ist US-Direktor des Umfrageinstituts Ipsos und Lektor an der Johns Hopkins-Universität. Er studierte Statistik und Soziologie an der University of Chicago.

tagesschau.de: Bei der Präsidentschaftswahl 2016 gingen die meisten Umfragen davon aus, dass Hillary Clinton das Rennen machen würde. Dann siegte überraschend Trump. Warum sind Sie zuversichtlich, dass die Umfragen nicht erneut irren?

Young: Biden liegt vor Trump, genauso wie damals Clinton. Aber es gibt ganz klare Unterschiede im Vergleich zu 2016. Biden hat bessere Beliebtheitswerte als Clinton vor vier Jahren. Sie war eine schwache, unbeliebte Kandidatin. Biden hingegen ist leicht zu verdauen, wie wir hier sagen. Darüber hinaus ist sein Vorsprung in potenziell wahlentscheidenden Staaten wie Wisconsin und Pennsylvania derzeit größer als damals bei Hillary Clinton. Auch die noch unentschiedenen Wähler neigen stärker zu Biden als 2016 zu Clinton. Und diese Unentschlossenen machen immerhin 20 bis 25 Prozent der Wählerschaft aus.   

tagesschau.de: Was macht Biden noch zum Favoriten?

Young: Bei den drei Themen, die Amerikanern derzeit besonders wichtig sind, glauben im Moment mehr Wählerinnen und Wähler an Bidens Fähigkeiten. Sie trauen ihm eher eine robuste Strategie zu, um Amerika gut durch die Pandemie zu bringen. Sie glauben auch, dass Biden das Vertrauen in die Regierung wiederherstellen kann. Nur beim Thema Wirtschaft und Jobs führt Trump vor Biden.

tagesschau.de: Sie erklären Trumps schlechte Umfrageergebnisse damit, dass er als schlechter Corona-Krisenmanager wahrgenommen wird. Welchen Einfluss würde es haben, wenn der Präsident noch vor der Wahl einen Impfstoff präsentieren könnte?

Young: Ich glaube nicht, dass das viel ändern würde. Diese Impfung müsste sichtbar effektiv sein, um die Meinung der Bevölkerung drastisch zu ändern. Ansonsten ist es nur eine weitere Schlagzeile im Wahlkampf. Und da viele Amerikaner derzeit Risiken und Gefahren an jeder Ecke sehen, wird das kurzfristige Marketing rund um eine Impfung nicht viel an den Wahlresultaten ändern.

tagesschau.de: Was spricht dafür, dass Trump trotzdem noch eine Trendwende gelingen könnte?

Young: Er ist der Amtsinhaber. Ein Präsident, der wieder antritt, hat im Durchschnitt dreimal höhere Siegchancen als sein Gegner. Wenn die Zustimmungswerte des derzeitigen Präsidenten über 40 Prozent liegen, dann stehen die Chancen normalerweise 50:50, dass er gewinnt. Und Trumps Zustimmungswerte liegen derzeit bei 38 Prozent, also knapp unter der 40-Prozent-Schwelle. In wichtigen Swing States liegt er sogar darüber. Das heißt, seine Zustimmungswerte sind zwar nicht top, aber auch keine Katastrophe.

tagesschau.de: Welche Rolle könnte die Wahlbeteiligung dieses Mal für den Wahlausgang spielen?

Young: Da es in den USA keine Wahlpflicht gibt, gehen nur 60 bis 65 Prozent der Wählerinnen und Wähler zur Wahl. Normalerweise gehen eher konservative, ältere und reichere Bürger an die Wahlurne. Das heißt, in einem normalen Wahljahr mit durchschnittlicher Wahlbeteiligung profitiert die Republikanische Partei von dieser Zusammensetzung. Das reicht aber nicht in jedem Fall, um eine Wahl zu gewinnen.

Es ist schwierig zu prognostizieren, wie sich die Pandemie auf die Wahlbeteiligung auswirken wird. Was wir jedoch jetzt schon sehen, ist der ähnlich große Enthusiasmus bei den Republikanern wie im Wahljahr 2016. Die Demokraten sind hingegen deutlich motivierter als bei der letzten Präsidentschaftswahl.

tagesschau.de: Welche Bedeutung könnte die Briefwahl haben?

Young: Die wichtigste Frage wird sein, wenn es um Wahlbeteiligung und letzten Endes den Wahlausgang geht: Erkennen die Wähler das Resultat an? Falls tatsächlich hauptsächlich per Brief gewählt wird, weil die meisten Amerikaner Angst haben in ein Wahllokal zu gehen, wird das die Glaubwürdigkeit und Legitimität des Wahlergebnisses untergraben? Wenn man Trump und seiner Regierung zuhört, wird das Ergebnis jetzt schon infrage gestellt. Wird sich das auf die Wähler übertragen?

tagesschau.de: Joe Biden wird in Kürze bekanntgeben, wen er als Vizepräsidentschaftskandidatin nominiert. Wie wichtig ist seine Auswahl?

Young: Die Vizepräsidentschaftskandidatin muss Koalitionen bilden können mit unterschiedlichsten Wählergruppen wie Frauen und Schwarzen. Außerdem muss sie mit ihren Auftritten helfen, Geld in die Wahlkampfkasse zu spülen. Aber was die Umfragen betrifft, sollte die Bedeutung einer Vizepräsidentschaftskandidatin nicht überschätzt werden.

Das Interview führten Jan Philipp Burgard und Teresa Eder, ARD-Studio Washington

Über dieses Thema berichtete am 03. August 2020 das Erste um 07:11 Uhr im ARD-Morgenmagazin und tagesschau24 um 15:00 Uhr.

Artikelquelle

Artikel in der gleichen Kategorie: