Auf seine Umhänge wäre Liberace neidisch gewesen. Auf seine auftoupierten Haare Dolly Parton. Den Kopf in dramatischer Geste nach vorne geworfen, die Hände ausgebreitet wie der Papst: So starteten die Auftritte von Walter Mercado. Dramatischer als jeder Eurovision-Song-Contest-Beitrag, sorgte er allein mit seiner Erscheinung für Begeisterung und wurde damit zum Star. 120 Millionen Fernsehzuschauer schalteten ein, wenn Mercado auf den Bildschirmen zu sehen war. Täglich! Eine unglaubliche Zahl, an die nicht mal US-TV-Größe Oprah Winfrey herankommt. Mercado ist ein Phänomen – bis heute.

„Mucho Mucho Amor“ heißt die eineinhalbstündige Dokumentation, die Cristina Costantini und Kareem Tabsch dem gebürtigen Puerto Ricaner beim Streamingdienst Netflix widmen. Das waren die Worte, die er seinen Fans stets am Ende seiner Wahrsagungen mit auf den Weg gab: ganz viel Liebe. Der kurz nach dem Ende der Dreharbeiten verstorbene Selfmade-Astrologe war in den 90er Jahren ein Star in Lateinamerika und bei der spanisch sprechenden Bevölkerung Nordamerikas. In seiner 60-minütigen Show sagte er den Zuschauern die Zukunft voraus und verkündete ihnen ihre Horoskope. Hoffnungsmacher, Schwulenikone oder doch Scharlatan?

„Er sieht manchmal aus wie eine Frau, manchmal wie ein Mann“, sagte sein langjähriger Vertrauter Willy Ascoa über Mercado. Das androgyne Erscheinungsbild war sein Markenzeichen. Im von Macho-Männern geprägten Lateinamerika ein Tabubruch. Der exaltierte Mercado wurde zum Vorbild vieler Schwuler, obwohl er seine Homosexualität niemals öffentlich machte. „Warum etwas sagen, was offensichtlich ist“, war seine Antwort auf die Frage nach seiner sexuellen Orientierung. Trotz oder gerade wegen seiner Andersartigkeit liebten ihn Hausfrauen ebenso wie Busfahrer oder Politiker (Ronald Reagan buchte angeblich private Weissagungen bei ihm).

Walter Mercado war mindestens so beliebt wie Julio Iglesias

„Darf ich ein Foto mit Ihnen machen?“ Die Dokumentation begleitet Mercado von Ponce in Puerto Rico, wo er lebte, auf seiner letzten Reise nach Miami. Am Flughafen wird er noch immer von Fans erkannt, die seine Hand schütteln oder ein Selfie machen wollen. Mercado ist bei Hispanics genau so beliebt wie Julio Iglesias oder Gloria Estefan. Mindestens. Das „HistoryMiami“ Museum widmete ihm sogar eine Ausstellung, bei deren Eröffnung er auf einem Thron hereingetragen wurde. Eine Art Papa-Mobil für einen Sterndeuter. Wahnsinn.

Was trivial klingt, entwickelte Mercado zu einer Kunstform. Denn er verlas nicht einfach nur so Horoskope. Mercado, ein gelernter Schauspieler, verstand es sehr früh, Menschen in seinen Bann zu ziehen. Die großen Gesten, der eiserne Blick: Seine Fans vertrauten ihm und seinen Vorhersagen. Ob er überhaupt etwas von Astrologie verstand? Fraglich. Doch darauf kam es gar nicht an. Er machte den Leuten Hoffnung.

Mercado verschwand plötzlich von den Bildschirmen

„Ich habe nie jemandem geschadet“, sagte Mercado. Dabei beschäftigte er in Zeiten der Call-In-Shows mehr als 4000 angebliche Astrologen, die in seinem Namen gegen eine Gebühr die Zukunft vorhersagten. Ein Millionengeschäft. Und eine fragwürdige Aussage. Doch Mercado verstand sich nie als Geschäftsmann, sondern immer als Künstler. Durch einen dubiosen Vertrag mit einem Manager verlor er die Rechte an seinem Namen und verschwand von heute auf morgen auf dem Höhepunkt seines Erfolgs von den Bildschirmen. Ein Comeback-Versuch 2006 scheiterte.

"Miami Vice"-Star Don Johnson

Die Netflix-Doku feiert Mercado als Legende. Er ist der Tiger-King der Astrologen. Weggefährten kommen zu Wort, die Zuschauer sehen seinen steilen Aufstieg und das überraschende Ende seiner Karriere. Die kritischen Stimmen zu Mercado sind dabei sehr leise. Vielleicht zu leise. Denn eigentlich machte Mercado nichts anderes als viele Astro-Scharlatane – nur mit mehr Brimborium. Den Machern ist trotzdem ein spannendes Stück Zeitgeschichte über eine schillernde Persönlichkeit gelungen. Mucho, mucho grandios.

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