Als Carlos Enrique Ibarra am Montag den ersten Facebook Post einer Freundin zu neuen Regeln für Onlinekurse sah, machte er sich noch keine Gedanken. Sowohl Ibarra als auch die Autorin des Posts sind ausländische Studenten an der University of New Mexico in Albuquerque – für Ibarra beginnt in rund einem Monat das letzte Studienjahr, dass er mit einem Doktor in hispanischer Linguistik abzuschließen plant. Der mexikanische Doktorand ging davon aus, dass seine Freundin sich auf Facebook über neue Anforderungen der Universität für das kommende Herbstsemester beschwerte. Doch im Laufe des Tages teilten mehr und mehr Freunde Artikel zum gleichen Thema und Ibarra fand heraus, dass es nicht um Uni-Regularien ging, sondern um eine Bekanntgabe der Einwanderungs- und Zollbehörde ICE – und damit möglicherweise um seine Zukunft.

Die US-Einwanderungsbehörde hatte am Montag das Ende einer Ausnahme verkündet, die mit dem Beginn der Corona-Krise in Kraft trat. Normalerweise bekommen junge Männer und Frauen aus dem Ausland nur ein Studentenvisum für die USA ausgestellt, wenn sie Kurse wählen, für die sie persönlich im Vorlesungssaal erscheinen müssen.

In der Pandemie, während der praktisch alle Universitäten ihren Unterricht auf Onlinekurse umgestellt haben, galt diese harte Regel bisher nicht. Von einem Tag auf den anderen wurde praktisch jeglicher Präsenzunterricht abgeschafft, Studenten aus dem Ausland durften aber trotz online-only-Lernens ihr Semester abschließen. In der US-Hochschulwelt ist man bisher davon ausgegangen, dass diese Ausnahmeregelung weiterhin gelten würde. Schließlich ist die gesundheitliche Gefahr, die vom Coronavirus ausgeht, noch lange nicht gebannt, erst recht nicht in den USA.

Doch am Montag erklärte die ICE die Ausnahme für beendet. Für das Herbstsemester, das an den meisten US-Universitäten im August beginnt, gilt: Ausländische Studenten, die aufgrund der Pandemie ausschließlich Onlinekurse belegen können, dürfen ihr Studium nicht in den USA fortsetzen und müssen das Land verlassen.

Ausweisung nach mehr als 20 Jahren in den USA?

Carlos Enrique Ibarra, Doktorand an der University of New Mexico (privat)

Ibarra lebt seit fast 25 Jahren in den USA, ist aber kein Staatsbürger

Er begriff, was auf dem Spiel stand: „Ich fing an, Angst zu bekommen“, erzählt Ibarra. Der Linguist arbeitet im sechsten Studienjahr auf seinen Doktortitel hin, hat vorher aber bereits andere Studienabschlüsse in den USA gemacht und als Forscher und Dozent an verschiedenen Universitäten im ganzen Land gearbeitet. Insgesamt lebt er seit fast 25 Jahren in den USA. Für Ibarra sind die Vereinigten Staaten sein Zuhause, nicht sein Geburtsland Mexiko. Die Nachricht über die strikte Regelung verunsicherte den Doktoranden zutiefst. „Ich habe mir ernsthafte Sorgen um meine Zukunft gemacht.“

In der Nacht von Montag auf Dienstag schlief Ibarra so gut wie gar nicht. Als Doktorand im letzten Jahr hat er keine Kurse im eigentlichen Sinne mehr, sondern Beratungsstunden mit Professoren aus seinem Studienfeld. Sollte er nun seine Koffer packen müssen?

Harvard und MIT klagen

Diese Frage stellt sich auch allen ausländischen Studenten der renommierten Harvard University. Die hochangesehene Traditions-Universität vor den Toren von Boston wird wegen der Corona-Pandemie im kommenden Semester Kurse ausschließlich online anbieten. Wer mit einem ausländischen Pass an der Hochschule eingeschrieben ist, fällt somit unter die ICE-Regelung und müsste theoretisch innerhalb der nächsten Wochen die Zelte in den USA abbrechen.

Aber so einfach will Harvard seine internationalen Studenten nicht im Stich lassen. Gemeinsam mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) klagt die Universität gegen die Regelung der US-Regierung. Harvards Präsident Lawrence S. Bacow sagte, das plötzliche Ende der Ausnahme sei politisch motiviert und ein Weg, Universitäten zu zwingen, Präsenzkurse anzubieten „ohne Rücksicht auf die Gesundheit und Sicherheit von Studenten, Unterrichtenden und anderen.“

USA John Harvard-Statue mit Mundschutz (picture-alliance/AP Images/C. Binkley)

Namensgeber John Harvard trägt Maske. Auch die Harvard University ist vorsichtig und wird im kommenden Semester nur Onlinekurse anbieten

„Ihr gehört hierher“

Auch andere Universitäten in den USA haben versprochen, ihren ausländischen Studenten beizustehen. Der Präsident des Theologischen Seminars in Princeton, New Jersey, schrieb seinen Studenten am Donnerstag: „An unsere internationalen Studenten, ich möchte Euch versichern, dass das Seminar alles in seiner Macht stehende tun wird, um sicherzustellen, dass Ihr euer Studium hier fortsetzen könnt… Ihr gehört hierher.“ 

Lena Zwarg beginnt im August ihr zweites Master-Studienjahr am theologischen Seminar. Die Studentin aus Baden-Württemberg ist zuversichtlich, dass sie weiter in den USA studieren kann, da das Princeton Theological Seminary ein sogenanntes Hybrid-Programm anbietet: Einige ihrer Kurse werden online stattfinden, andere, mit höchstens 10 Studenten, „live“ vor Ort. Trotzdem hat Zwarg kein Verständnis für die Regelung.

Verordnete Normalität

Sie selbst könne zwar im Notfall kurzfristig zurück nach Deutschland reisen und ihr Studium online vom Haus ihrer Eltern aus fortführen. Aber längst nicht alle Studenten, die jetzt vor einer gezwungenen Ausreise stehen, hätten so viel Glück. Einige Studenten, so Zwarg, hätten in ihrem Heimatland niemandem, bei dem sie unterkommen könnten. „Viele Leute haben nicht mal das Geld, um so kurzfristig ein Flugticket zu kaufen“, sagt die Studentin. „Das ist wahnsinnig viel Stress und Angst, nicht zu wissen, wie es weitergeht.“

Die kurzfristige Ankündigung der Regel für ausländische Studenten macht einmal mehr deutlich: US-Präsident Donald Trump will so schnell wie möglich zur Normalität zurückkehren, um seine Wiederwahl nicht zu gefährden. Strikte Coronavirus-Einschränkungen sind ihm ein Dorn im Auge. So kündigte er diese Woche an, Schulen sollten nach den Sommerferien wieder normal öffnen. Das geht zwar direkt gegen den Rat seiner Gesundheitsexperten, aber Trump kündigte trotzdem an, Schulbezirken, in denen Unterricht nur an bestimmten Wochentagen im Klassenraum stattfinden würde, den Geldhahn zuzudrehen. Die Ausweisung ausländischer Studenten passt außerdem in ein Schema harter Anti-Einwanderungsregelungen, welche die Trump-Regierung unter Corona eingeführt oder verschärft hat.

Das Studium als Drahtseilakt

USA New Mexiko UNM Campus (picture-alliance/Zuma/Albuquerque)

Carlos Enrique Ibarra darf hier doch weiter studieren

Ibarra fand am Dienstagabend heraus, dass er nicht von der Regelung betroffen sein wird und sein Studium in den USA fortsetzen darf. Die sechs Beratungsstunden, die er wöchentlich hat, gelten offiziell als Präsenzunterricht und nicht als Onlinekurs, auch wenn er in Wirklichkeit einen Teil der Zeit mit Telefongesprächen oder Videochats verbringen wird.

Der Doktorand ist erleichtert – aber trotzdem frustriert. Er sagt, das Ende der Ausnahme sei ein weiteres Hindernis für internationale Studenten in den USA, die sowieso schon mit enormen bürokratischen Hürden zu kämpfen hätten. „Wer mit einem Studentenvisum hier ist, für den ist die Situation alles andere als stabil“, sagt Ibarra. „Man versucht immer nur, das nächste Semester zu überstehen. Das ist wie auf einem Drahtseil zu balancieren, um das sich die US-amerikanischen Studenten nicht sorgen müssen.“

Artikelquelle

Artikel in der gleichen Kategorie: