Als Abid Raja ein kleiner Junge war, gab es in seinem Elternhaus nur ein einziges Buch: den Koran. Bis zu dem Tag, als er die Tür zu einer Osloer Bücherei aufstieß – und damit das Tor zu einer neuen Welt. „Er spricht der örtlichen Bücherei eine große Rolle zu“, sagt der Journalist Thomas Spence, der für die norwegische Zeitung „Aftenposten“ arbeitet. „Dort gab es eine Frau, die ihn mit Büchern in Berührung brachte, mit denen sein Erwachsenenleben begann.“

Als Jugendlicher las Raja die Romane des norwegisch-walisischen Schriftstellers Roald Dahl. Später waren es juristische Texte: Er studierte Rechtswissenschaften, erhielt ein Stipendium für die Universität Oxford und wurde Anwalt. Am 24. Januar 2020 nahm die Karriere des Sohnes pakistanischer Einwanderer dann ihren vorläufigen Höhepunkt: Abid Raja wurde – als zweiter Muslim überhaupt – Minister einer norwegischen Regierung.

Am Kabinettstisch wurden Plätze frei

Die Kabinettsumbildung war nötig geworden, weil Ministerpräsidentin Erna Solberg ein Koalitionspartner ihrer Mitte-Rechts-Regierung abhanden gekommen war: Die rechte Fortschrittspartei FrP wechselte in die Opposition, sodass Solberg nun mit den verbliebenen Partnern in einer Minderheitsregierung weitermacht. Nebenbei wurde auch die Ministerin Annike Hauglie entlassen, die als Sozialministerin einen Skandal zu verantworten hatte, in dem wegen einer nicht angewandten EU-Richtlinie unbescholtene Bürger zu Haftstrafen verurteilt wurden.

Zu größeren inhaltlichen Veränderungen führt die Kabinettsumbildung erst einmal nicht, glauben Beobachter: Solberg ist für ihre Vorhaben weiter auf die Stimmen der FrP angewiesen, und am Haushaltsentwurf, der bis zur Sommerpause verabschiedet werden soll, hat die FrP als ehemaliges Regierungsmitglied sogar noch selbst mitgearbeitet.

Norwegen Oslo Regierungsselfie (Getty Images/AFP/NTB Scanpix/T. Pedersen)

Gut gelaunt in die Minderheitsregierung: Erna Solberg versammelt ihr neues Kabinett zum Selfie

Der Rückzug der FrP kommt in einer Zeit schlechter Umfragewerte – als Begründung wurde der Umgang mit norwegischen Staatsbürgern angeführt, die sich der „IS“-Terrormiliz im Nahen Osten angeschlossen hatten. Bislang hatte die Regierung nur unbegleitete Minderjährige mit norwegischem Pass heimgeholt. Im Januar sagte das Kabinett jedoch offiziell zu, gemeinsam mit zwei Kindern auch deren 29-jährige Mutter nach Norwegen einzufliegen. Eines der Kinder war dringend auf ärztliche Behandlung angewiesen. Es ist mehr als ein Gerücht, dass Abid Raja sich im Hintergrund maßgeblich für die Unterstützung der Mutter und ihrer Kinder eingesetzt hatte.

Der Aufstieg des Abid Raja

Der Journalist Thomas Spence nennt den 44-jährigen Raja im Gespräch mit der DW einen „schillernden Charakter“ mit einer spannenden Lebensgeschichte: Als Kind lebte Abid Raja in relativer Armut, in einer engen Wohnung mit den Eltern und drei Geschwistern. Zu Hause führte der Vater, ein Industriearbeiter, ein strenges Regiment, auch unter Anwendung von Gewalt. Das Jugendamt gab Raja zeitweilig in die Obhut eines Kinderheims. Dort hatte er Umgang mit Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen, kam selbst in Konflikt mit dem Gesetz. In seiner Biografie beschreibt Raja einen Raubzug, bei dem er fast mit einem Pflasterstein das Opfer angegriffen hätte. „Er sagt, dass er viele Male kurz davor stand, zum Mörder zu werden“, sagt Thomas Spence. „Das zeigt, wie nah Aufstieg und Abstieg im Leben beieinander liegen.“

Raja selbst gelang schließlich der Aufstieg. Er schloss die weiterführende Schule mit guten Noten ab und schrieb sich an der Universität Oslo ein. Dort lernte er die Psychologie-Studentin Nadia Ansar kennen. „Wegen der ungeschriebenen Gesetze der muslimischen Community durften sie sich ohne die Billigung der Familien nicht sehen“, sagt Spence. „Also trafen sie sich in einer Burger-King-Filiale im Westen Oslos, wo sie außer Sichtweite waren.“ Inzwischen sind die beiden verheiratet und haben drei Kinder. „Die Geschichte nimmt also ein gutes Ende“, sagt Spence.

Auch im Studium kommt Abid Raja voran: Als ersten Norweger mit Migrationsgeschichte entsandte ihn die Universität Oslo für ein Jahr nach Oxford. Während des Jurastudiums wandelte sich auch Rajas Einstellung zum Islam: Er hinterfragte das konservative Religionsverständnis des Elternhauses und begann, für offene Moscheen und Gleichberechtigung der Geschlechter in den Gemeinden einzutreten. Heute bezeichnet er sich selbst als moderaten Muslim.

Der Liberale und die Fortschrittspartei

Nach seinem Abschluss arbeitete Raja als Anwalt, bevor er 2013 als Abgeordneter der liberalen Partei Venstre ins Storting gewählt wurde, das norwegische Parlament. Er arbeitete sich hoch zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und zu einem der Vizepräsidenten des Parlaments.

Dabei hat Raja nicht gerade den Ruf eines Parteisoldaten: „Manchen gilt er als wandelndes Pulverfass“, sagt Thomas Spence. Im Wahlkampf im vergangenen Herbst hatte Raja die rechte FrP bezichtigt, „braune Propaganda“ zu verbreiten. Später entschuldigte Raja sich bei der aufgebrachten Fortschrittspartei, er habe die historische Bedeutung der Farbe nicht gekannt. Anders als im Deutschen, wo braun mit Nationalsozialisten verknüpft ist, kann es sich in Norwegen auch auf die Farbe von Wasser beziehen, wenn man schlammigen Grund aufwühlt.

Norwegen Oslo Kulturminister Abid RajaNorwegen Regierung Minister Kulturminister Abid Raja (picture-alliance/NTB scanpix/H. M. Larsen)

Übergabe im Ministerium: Abid Raja mit seiner Vorgängerin und Parteichefin Trine Skei Grande

Im neu gewählten Storting revanchierten sich 31 FrP-Abgeordnete, indem sie sich bei der Wahl Rajas zum Parlamentsvizepräsidenten enthielten. Die Vertreter der anderen Parteien wurden einstimmig gewählt.

Ein Mann mit Ambitionen

Im Ministerium für Kultur und Gleichstellung ist Raja der Nachfolger von Trine Skei Grande – die Parteichefin der Liberalen wechselte bei der Kabinettsumbildung in das Bildungs- und Integrationsressort. Bei seiner Ernennung sprach Raja vor Journalisten davon, was für ein großer Erfolg dieser Schritt sei. „Es ging viel um Abid Raja und nicht um seine Partei und ihre politischen Prinzipien – er erwähnte die Partei überhaupt nicht“, sagt Spence. Überhaupt mache Raja keinen Hehl aus seinen eigenen Ambitionen: „Er hat keine Hemmungen, zu sagen, dass er an die Spitze will.“

Manche sagen auch, das sei ein wichtiger Grund, weshalb Raja nun sein eigenes Ministerium erhalten hat, genau wie der 32-jährige Sveinung Rotevatn, der am gleichen Tag zum Umweltminister ernannt wurde: Die beiden aufstrebenden Politiker könnten Venstre-Chefin Grande eines Tages das Amt streitig machen. Nun müssen sie sich erst einmal in Regierungsverantwortung beweisen.

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