Mit leisen Schritten nähert sich der kleine Chihuahua Bianca Bär. Zärtlich schmiegt er sich an ihre Beine und lässt die junge Frau dabei nicht aus den Augen. Als sie vorsichtig die Hand nach ihm ausstreckt, legt er sich hingebungsvoll auf den Rücken und lässt sich von Bianca den Bauch kraulen. Ihre Gesichtszüge entspannen sich augenblicklich. Als sie aufschaut, lächelt sie zaghaft, ihre Augen glänzen. „Wenn Nepi da ist, vergesse ich all meine Probleme und Sorgen“, erzählt sie. „Innerhalb von Minuten erscheint alles wie umgewandelt und ich fühle mich einfach nur glücklich.“

Glück, das hat die 26-Jährige in ihrem bisherigen Leben nur selten erfahren. Durch negative Erlebnisse in ihrer Kindheit leidet sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie schweren Depressionen. Seit dreieinhalb Jahren lebt sie gemeinsam mit 51 anderen Patientinnen und Patienten im Wohnheim für Menschen mit seelischen Erkrankungen der Dr. med. Anne M. Wilkening GmbH in Hannover. Zuvor war sie über ein Jahr lang in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht. Der Wechsel in das offene Wohnheim ist ihr nicht leichtgefallen. „Eine neue Stadt, neue Menschen, neue Strukturen, das hat mich anfangs ziemlich überfordert“, erzählt sie, während sie Nepi ein wenig näher zu sich heranzieht. „Ich hatte auch Schwierigkeiten, mich den neuen Therapeuten hier zu öffnen. Bis Nepi kam.“

Hochsensibler Therapiehund

Der sechsjährige Chihuahua ist ausgebildeter Therapiehund. Sein Spezialgebiet: Er wittert Tränenflüssigkeit. „Wenn Nepi in einen Raum mit mehreren Menschen kommt, weiß er dadurch genau, wer traurig ist und Hilfe benötigt“, erklärt Nepis Herrchen. Andreas Feyerabend arbeitet als Psychotherapeut im Wohnheim und leitet die Niedersächsische Akademie für Gesundheit und Soziales. „Hat Nepi den hilfebedürftigen Menschen gefunden, beginnt er sofort mit der Arbeit. Er sucht den Körperkontakt, schmiegt sich an und lädt die betroffene Person ein, ihn zu streicheln.“

In seinem Job ist der gerade einmal zwanzig Zentimeter kleine Rüde mittlerweile schon ein alter Hase. Mit sechs Monaten hat seine einjährige Ausbildung zum Therapiehund im Serengeti-Park Hodenhagen begonnen. Dort wurde ihm nicht nur das Wittern von Tränenflüssigkeit beigebracht, sondern auch andere wichtige Skills für die Arbeit mit psychisch kranken Menschen: Nepi hat gelernt, sich nicht von äußeren Reizen wie etwa lauten Geräuschen ablenken zu lassen, Menschen nicht anzubellen oder zu bespringen und sich zu jeder Zeit voll und ganz auf seinen Patienten zu konzentrieren. Nach der Ausbildung stieg Nepi direkt in den Fulltime-Job ein, sein Herrchen war zu dieser Zeit Leiter der Traumaambulanz an der Medizinischen Hochschule Hannover. Doch nicht nur die Ausbildung und seine mittlerweile mehrjährige Berufserfahrung haben Nepi zu einem hochsensiblen Therapiehund gemacht, auch seine Rasseeigenschaften kommen ihm zugute: Chihuahuas gelten als sehr anhänglich, hochsensibel, loyal sowie ausgesprochen lernwillig und clever.

Für Andreas Feyerabend ist Nepis Unterstützung aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. „Bei der Arbeit mit schwer traumatisierten Menschen kommt man mit herkömmlichen Therapiemethoden in den meisten Fällen nicht weiter“, erzählt er. „Das liegt auch daran, dass viele Patienten hier im Wohnheim nicht nur eine, sondern gleich mehrere schwerwiegende Diagnosen wie Persönlichkeitsstörungen, Psychosen, Depressionen oder bipolare Störungen mitbringen. Hinzu kommt häufig auch noch eine Suchterkrankung. Als Therapeut weiß man da oft gar nicht, wo man anfangen soll. Und an dieser Stelle kommt Nepi ins Spiel: Er hilft mir, das Eis zu brechen und überhaupt mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Und das ist natürlich der erste Schritt für eine erfolgreiche Therapie.“

So war es auch bei Bianca Bär. Die introvertierte, schüchterne Frau war wochenlang nicht in der Lage, in der Therapiesitzung etwas von sich zu erzählen. Selbst das Antworten auf gezielte Fragen fiel ihr schwer. Zudem dissoziierte sie während der Sitzungen häufig, sodass  sie minutenlang nicht ansprechbar war. Dieses Abdriften in einen anderen Bewusstseinszustand ist eine Folge der schweren Traumatisierungen. „Seit ich Nepi mit zur Therapie bringe, ist Frau Bär nicht nur glücklicher und offener, sondern auch durchgehend ansprechbar“, berichtet Feyerabend. „Sie ist in der Lage, sich zu konzentrieren und über Erlebtes sowie über ihren Alltag zu sprechen. Das war lange Zeit undenkbar. Außerdem hat Nepi während der Therapie noch eine Aufgabe: Er tröstet Frau Bär, wenn es ihr beim Gespräch nicht gut geht. Als Therapeut kann ich sie nicht einfach in den Arm nehmen. Das übernimmt dann Nepi.“

Was Andreas Feyerabend bei seinen Patienten beobachtet, ist nicht nur seine subjektive Empfindung, die positiven Effekte von Hunden auf Menschen sind auch wissenschaftlich erwiesen. Lässt sich jemand auf einen Hund ein, schüttet sein Körper das Hormon Oxytocin aus. Das sogenannte Kuschelhormon stärkt das Vertrauen und fördert so­ziale Bindungen. „Und genau darum geht es in allen therapeutischen Maßnahmen: Vertrauen aufzubauen“, so Feyerabend. Und noch eine andere Sache passiert nachweislich bei der sogenannten tiergestützten Therapie: „Wenn ein Hund den Raum betritt, gehen die Mundwinkel der meisten Menschen automatisch nach oben – wodurch das Glückshormon Serotonin ausgeschüttet wird. Und davon haben vor allem depressive Menschen zu wenig“, weiß Feyerabend. „Das macht den Einsatz von Therapiehunden für uns hier zu einem hoch spannenden und erfolgreichen Modell.“ Und dennoch wird die tiergestützte Therapie von den Kostenträgern aus dem Sozial- und Gesundheitswesen bisher nicht finanziert. Andreas Feyerabend hofft, dass sich das bald ändert. Der Erfolg gibt ihm recht.

Schwere Psychosen

Bei seinem Patienten Walter Henning hat Nepis Anwesenheit deutliche Veränderungen bewirkt: Kaum dass der 42-Jährige, der unter schweren Psychosen leidet, sich Andreas Feyerabend gegenübersetzt, läuft Nepi zu ihm und stupst ihn mit seiner kleinen Schnauze  an. Walter Henning hebt den gerade einmal  3,3 Kilo schweren Rüden mit einer Hand hoch, setzt ihn sich auf den Schoß und lächelt. Liebevoll krault er ihm die Ohren, während Nepi sich entspannt ausstreckt.

Polizeihund Ben klaut Spielsachen

Walter Henning ist in den rumänischen Karpaten mit Herdenschutzhunden aufgewachsen. „Seit meinem fünften Lebensjahr war ich immer mit den Hunden unterwegs“, erinnert er sich strahlend. „Sie haben mich in sämtlichen Situationen beschützt, einmal sogar vor einem Bären. Diesen Moment werde ich niemals vergessen.“ Nach einer Pause fügt er mit leiser Stimme hinzu: „So wie die Hunde hat sich noch nie ein Mensch um mich gekümmert. Ich habe ihnen blind vertraut. Und noch heute vertraue ich Hunden mehr als Menschen.“ Nepi begleitet Walter Henning nicht nur während der Gesprächstherapie, er geht auch gelegentlich mit ihm auf dem Gelände des Pflegeheims spazieren. „Dadurch lernt Herr Henning, Verantwortung für ein anderes Lebewesen zu übernehmen. Das ist ein wichtiger Aspekt für psychisch kranke Menschen, die lange Zeit nicht einmal mehr in der Lage waren, die Verantwortung für sich selbst zu tragen.“ 

Auch bei Bianca Bär weckt der kleine Chihuahua positive Erinnerungen an früher. „In meiner Pflegefamilie lebte ein Kater, der in dieser Zeit mein größter Vertrauter war“, erzählt sie. „Überhaupt habe ich mich von Tieren schon immer gut verstanden gefühlt. Durch den Kater habe ich das erste Mal in meinem Leben Geborgenheit erfahren. Und genau dieses Gefühl spüre ich heute, fünfzehn Jahre später, durch Nepi endlich wieder. Es fühlt sich an, als ob tiefe Wunden in mir drin langsam verheilen. Ich fühle mich einfach geliebt.“ Dass sich die Patienten durch Nepi bewusst an ihre Kindheit erinnern, passiert nicht zufällig. „Er triggert das Langzeitgedächtnis. Dadurch erinnern sich Betroffene an frühere Emotionen“, erklärt Andreas Feyerabend. „Dieser Vorgang ist für das Gehirn enorm wichtig.“

Dass auch Patienten wie Bianca Bär, die keine Erfahrung mit Hunden haben, einen Bezug zu Nepi finden, liegt nach Ansicht von Feyerabend an der Größe des Rüden – er hat sich bei seinem Begleiter ganz bewusst für die kleinste Hunderasse der Welt entschieden. „Da wir es hier im Wohnheim mit vielen sehr zurückhaltenden und unsicheren Menschen zu tun haben, stand schnell fest, dass wir einen Therapiehund brauchen, vor dem niemand Angst hat“, erklärt Feyerabend. „Durch seine geringe Größe löst Nepi einen Beschützerinstinkt bei den Patienten aus. Sie bekommen das Gefühl, gebraucht zu werden. Das ist ein weiterer wichtiger Baustein für eine erfolgreiche Therapie.“

Wenn sich ein achtstündiger Arbeitstag für den fleißigen Nepi dem Ende neigt, sinkt der Chihuahua erschöpft und zufrieden in sein Körbchen. Auch Streicheleinheiten können ganz schön anstrengend sein, wenn man sie hauptberuflich empfängt.

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