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Die Erde bebte. Zwischen den Bergflanken grollte und schepperte es, Blitze erleuchteten mein Zelt. Ich war sofort hellwach. Mein Stellplatz kam mir nun überhaupt nicht mehr gut gewählt vor. Wenige Meter neben mir standen zwei riesige Tannen, weit und breit ragte nichts höher in den Himmel als ihre Wipfel. Kurz überlegte ich, in den dunklen Wald zu hasten. Dann redete ich mir selbst zu: »Diese Tannen stehen hier schon hundert Jahre und haben unzählige Gewitter überstanden.«
Am nächsten Morgen fragte ich mich, was schlimmer gewesen war: das überstandene Gewitter oder der nächtliche Überfall einer Rotte Wildschweine gleich zu Beginn der Tour.
Jetzt trennten mich nur noch 300 Kilometer vom Ziel. Ich wurde immer langsamer. Ich wollte nicht, dass dieser Trip zu Ende war. Dabei wusste ich längst: Der erste Schritt ist der wichtigste. Das Geheimnis liegt nicht im Ankommen, sondern im Loslaufen.

Foto: Rebecca Salentin
Zwei Wochen später war ich in Budapest und konnte selbst kaum glauben, dass ich von Eisenach aus 2700 Kilometer weit gelaufen war, etliche Gefahren und brenzlige Situationen gemeistert und mutterseelenallein in Bärengebieten gezeltet hatte. Ausgerechnet ich, die Person, die Angst vor Spinnen, Hunden, Gewittern, steilen Höhen und dunklem Wald hat. Die in der Schule zu den Letzten gehörte, die beim Mannschaftssport gewählt wurden, und sich am liebsten mit einem Buch in eine stille Ecke verzog, während die anderen Kinder draußen tobten.
Und ja, ich habe mich auf dieser langen Wanderung gequält, habe geschwitzt, gekeucht und geschimpft, vor allem wenn es bergauf ging. Und es ging oft bergauf: Rund 75.000 Höhenmeter fordern die Mittelgebirge einem ab.
»Keine Tür, kein Briefkasten, nicht einmal ein Fahrradschloss wartete darauf, von mir aufgeschlossen zu werden.«
In Budapest lag nicht nur der Internationale Bergwanderweg der Freundschaft Eisenach–Budapest (EB) hinter mir, der einzige grenzüberschreitende Fernwanderweg, den es im Sozialismus gab, sondern auch ein anderes Leben. Für die Wanderung hatte ich mein Café verkauft und mich von meinen langen, rot gefärbten Haaren getrennt. Und von meinem Lebenspartner, der mich jahrelang belogen hatte.
Ich verlor durch die Trennung meine Wohnung. Ich lagerte das Nötigste ein und gab am Tag vor meiner Abreise die letzten Schlüssel ab: keine Tür, kein Briefkasten, nicht einmal ein Fahrradschloss wartete darauf, von mir aufgeschlossen zu werden. Für die nächsten Monate musste reichen, was ich am Leib und auf dem Rücken trug.
Der Anblick der Starttafel an der Wartburg schüchterte mich ein. Der EB macht von Eisenach aus eine riesige Schlaufe durch Deutschland, Tschechien, Polen, die Slowakei und Ungarn – eben bis nach Budapest. Mich hatte schon der Anstieg zur Burganlage an meine Grenzen gebracht, Schweiß lief mir von der hochroten Stirn, schwer stützte ich mich auf die Stöcke. Am liebsten hätte ich sofort aufgegeben. Meine Söhne aber glaubten an mich. Ihretwegen war ich auf die Idee gekommen, so weit zu wandern.
Übergang in die neue Unabhängigkeit
Ich wurde Mutter, als ich noch zur Schule ging. Während die anderen in den Pausen rauchten, stillte ich. Während meine Freundinnen abends in die Disco fuhren, wechselte ich Windeln, machte den Haushalt und paukte für die Schule. Anderthalb Jahre später erhielt ich als eine der Jahrgangsbesten mein Abitur, mein Sohn tollte während der Festlichkeiten durch die Aula. Kurz später kam mein zweites Kind, und ich wusste, dass ich mit vierzig noch mal komplett neu durchstarten konnte. Mit dieser Wanderung wollte ich den symbolischen Übergang in die neue Unabhängigkeit zelebrieren. Jetzt hatte ich eher das Gefühl, mir den Boden unter den Füßen zurückerobern zu müssen.
Die ersten Wochen waren ein täglicher Kampf. Nachts lag ich bibbernd in meinem Zelt, und daran war nicht die Kälte schuld. Ich hatte Angst.

Wildzelten in der Slowakei: »Ich mag viel verloren haben, aber ich war nicht verloren«
Foto: Rebecca Salentin
Ich malte mir aus, dass mich der Förster mit der Flinte verjagte. Dass Hirsche über die Zeltschnüre stolperten und mich plattwalzten. Dass sich Wildschweine ins Zelt fraßen, angelockt von meinem Proviant, und mich gleich mitverspeisten, bei lebendigem Leib. Aber schon nach einer Woche wiegte mich das Rauschen des Windes in den Baumkronen in einen festen Schlaf, aus dem mich erst das Zwitschern der Vögel im Morgengrauen riss. Ich musste Zahnseide durch die pflaumengroßen Blasen an meinen Füßen ziehen, um weiterlaufen zu können. Wenn ich es bis Tschechien schaffe, dachte ich, schaffe ich auch den Rest.
»Das monotone Tun beim Wandern wurde ein angenehmer Flow«
Ich kroch aus dem Zelt in zentimeterhohen Schnee. Meine Campingkocher-Mahlzeit wurde schneller kalt, als ich sie essen konnte. Meine Ausrüstung war nass und klamm. Andere Wanderinnen und Wanderer waren viel schneller. Strecken, für die ich zwei Tage brauchte, liefen sie an einem. Ich fühlte mich unbeholfen, plump und überladen.
Warum eigentlich? Ist es nicht egal, wie man die Berge hochkommt, Hauptsache, man kommt sie hoch? Ich schaffte es, mich vom Leistungsdruck zu befreien – und das war der beste Moment auf der ganzen Tour.
Am meisten aber kämpfte ich mit dem Gedankenkarussell, das sich im Rhythmus der eigenen Schritte drehte. Gedanken, die sehr laut waren, weil es sonst nichts zu klären gab, außer: Was esse ich heute, wo schlage ich mein Zelt auf, brauche ich Regenjacke oder Sonnenhut? Irgendwann hatte ich alles zu Ende durchdacht. Ich erlebte Leichtigkeit, das monotone Tun beim Wandern wurde ein angenehmer Flow. Ich blickte nur noch auf die Natur und das, was es am Wegesrand zu entdecken gab. Meine neue Devise: »Make friends, not kilometers!«
Unterwegs mit Freunden
In Wahrheit war sie gar nicht so neu. Die kürzliche Trennung war ein herber Schlag, aber ich hatte mich schnell meines Lebensmottos besonnen. Schon als ich mit 21 Jahren realisierte, dass ich zwei Kinder allein großziehen würde, sagte ich mir: »Du bleibst nicht Opfer deines Schicksals, du wirst Täterin deines Glücks!«
Der EB war von den sozialistischen Bruderländern im Sinne der Völkerverständigung angelegt und mit dem Beinamen »Weg der Freundschaft« versehen worden. Ich lud Freunde ein, mich auf dem Trail zu besuchen. Erstaunlich viele taten das: Sie reisten für einen Tag, ein Wochenende oder eine ganze Woche an. Da wusste ich: Ich mag viel verloren haben, aber ich war nicht verloren.
Zusammen bildeten wir den Klub Drushba. Drushba heißt Freundschaft. Unsere Beziehungen intensivierten sich. Die Erfahrung, tagelang auf das Existenzielle reduziert zu sein, schweißte uns zusammen.
Und der Klub Drushba wuchs unterwegs. Ich lernte einen Mann kennen, der den EB stückchenweise über 16 Jahre erwandert hatte. Weil er alles über den Weg wusste und aus der Ferne immer für mich da war, wurde er mein trail angel; so nennt man die guten Seelen am Wanderweg.
In Tschechien nahm mich eine fremde Großfamilie mit fünf Kindern und Hund spontan für ein langes Wochenende auf. In der Tatra weckte mich das Klingeln unzähliger Glocken. Eine riesige Schafherde wurde vor meinem Zelt zur nächsten Weide getrieben. Ich war im Gebiet der Goralen. Von ihnen kaufte ich gelben, mit Ornamenten verzierten Räucherkäse. Dann regnete es tagelang.
Irgendwann waren meine Fußsohlen so schrumpelig, dass ich Schuhe nicht mehr ertrug. Barfuß strandete ich in einer Blockhütte, die zwischen den sanft geschwungenen, dunkel bewaldeten Hügeln der Niederen Beskiden lag. Bei einer Tasse Tee in der Bauernstube lernte ich einiges über die Geschichte des verwaisten Tals.
Flucht und Vertreibung
Früher hatten hier Polen, Juden, Roma und Lemken, eine ruthenische Volksgruppe, friedlich zusammengelebt. Sie hatten sich sogar eine Kirche geteilt: Samstags war der Vorraum Synagoge, sonntags gab es eine katholische und eine orthodoxe Messe.
Dann kam der Krieg. Juden und Roma wurden deportiert oder vor Ort ermordet, wovon ein Massengrab auf dem Bergkamm zeugt.
Die Lemken wurden 1947 zwangsumgesiedelt. Nur der alte Bauer war als junger Mann heimlich zurückgekehrt. »Ich lebte vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten und kämpfte im Winter mit dem Wolf!«, sagte er lachend. Goldzähne blitzten im wettergegerbten Gesicht. Und auch ich stieß in dem nach wilder Minze duftenden Bachtal auf frische Wolfsspuren. Aber dass hier einst Höfe standen, davon zeugen nur noch krumm gewachsene Obstbäume und orthodoxe Bildstöcke, die aus dem hüfthohen Gras ragen.
Diese Orte machen den EB so besonders. Ständig wandert man auf den Spuren von Krieg, Flucht und Vertreibung. Einmal tauchte auf einer Bergkuppe ein Soldatenfriedhof gespenstisch aus dem Nebel auf.
Ich kroch durch Ruinen ehemaliger Festungen, Einsiedeleien und durchstöberte Lost Places, etwa stillgelegte Heilbäder und ehemalige Einrichtungen der Nationalsozialisten. Ich wanderte an moosbewachsenen Bunkern, an Soldatengräbern und Partisanendenkmälern vorbei. Überall stieß ich auf zurückgelassenes Kriegsgerät, sogar ein Flugzeug der Roten Armee und ein Panzer, der direkt vor einer Kirche stand, waren darunter.
Und ich sah verfallene oder zerstörte Synagogen und jüdische Friedhöfe, die mich daran erinnerten, dass auch meine Großeltern zu den Vertriebenen gehörten. Ihre Schtetl waren längst zerstört, sie hatten Getto und Konzentrationslager überlebt. Und waren nach dem Krieg zu Fuß von Polen bis Italien gelaufen. Da stand ich, mit ultraleichter Ausrüstung und Goretex-Kleidung, und fragte mich einmal mehr, wie sie diesen weiten Weg gemeistert hatten.
Die Lavendelfrau und ein neuer Mann
Im kleinsten Dorf Ungarns mit gerade mal acht Einwohnern sprach mich eine alte Dame an: »Möchten Sie mit mir Kaffee trinken?« Sie könne ein bisschen Übung in Englisch brauchen, ich fände sie im »Lavendelhaus«, sagte sie. Ich fand sie. Das historische Laubenganghaus war von blau blühenden Sträuchern umgeben, blau waren auch die Küchenkacheln, Ikonen und Lavendelsträuße hingen unter den dunklen, jahrhundertealten Balken der Stube.
Wegen der vielen Einladungen in Ungarn kam ich dort kaum noch zum Zelten. Die Fremden und ich hatten meist kein einziges Wort gemeinsamer Sprache, verstanden uns aber trotzdem.
In das Ziel Budapest lief ich zusammen mit einem der anderen Wanderer. Vor uns hatten erst zwölf Menschen den EB in einem Rutsch absolviert. Kennengelernt hatten wir uns schon auf dem deutschen Teil. Ich hatte meine Regenjacke verloren und er sie mir hinterhergetragen. Wir plauderten und schlugen abends unsere Zelte nebeneinander auf. »Nimm’s mir nicht übel, aber du bist echt langsam. Ich zische morgen ohne dich weiter«, sagte er. Er kündigte mir das drei Wochen lang jeden Tag aufs Neue an.
Auch später wanderten wir immer wieder ein paar Tage zusammen. Schnell war es mehr als eine reine Wanderfreundschaft. Ich war als Single losgelaufen und hatte am Ende einen neuen Mann.
Meine Haare aber bleiben kurz und grau. Ich bin praktischer, direkter geworden. Ich bin selbstbewusster geworden, weiß jetzt, was mein Körper kann. Ich habe ihn schätzen gelernt. Er hat mich weit getragen.
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