Die mediale Weltöffentlichkeit scheint immer wieder im Zeichen kollektiver Aufregung zu stehen. Auch Deutschland kommt seit den heftigen Diskussionen um die Flüchtlingskrise 2015 und deren Folgen, der Debatte um #MeToo , der globalen Klimadebatte, seit der politischen Intervention Black Lives Matter und nicht zuletzt aufgrund der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen der deutschen Bundesregierung nicht mehr zur Ruhe.
Wie das jahresübliche Aufreger-Thema im sogenannten „Sommerloch“ wirkt dagegen die Debatte rund um die Absage einer Lesung der österreichischen Kabarettistin Lisa Eckhart. In der Berichterstattung fiel neben altbekannten Vorwürfen wie „Zensur“ und „Hexenjagd“ auch mehrfach das neue Modewort „Cancel Culture“.
Der Begriff steht zwar noch nicht im deutschen Sprachlexikon „Duden“, wird er aber vermutlich bald. Der aus den USA importierte Ausdruck beschreibt das vermeintlich neue Phänomen, dass prominente Personen oder deren persönliche Äußerungen im Internet von einer weiteren Person oder Gruppe „gecancelt“, also im übertragenen Sinne „ausradiert“ werden. Dadurch sollen sie vor allem in den sozialen Netzwerken nicht mehr auftauchen.
Breites Spektrum angeblicher „Auslöschung“
In den Fokus einer breiten Öffentlichkeit rückte „Cancel Culture“ durch einen offenen Brief der „Harry Potter“-Autorin J.K. Rowling und anderen bekannten AutorInnen wie Margaret Atwood, der im Juli 2020 auf der Website des „Harper’s Magazine“ erschien. Darin beklagen die Unterzeichner eine „massive Einschränkung“ der öffentlichen Meinungsdebatte. Rowling war kurz zuvor im Netz für ihre Äußerungen über Transfrauen scharf angegriffen worden.
Unter den Begriff „Cancel Culture“ fallen ganz unterschiedliche Handlungen: das simple Blocken eines Twitter-Accounts im Netz, die Entfernung von Statuen oder Denkmälern, beispielsweise ehemaliger Nationalhelden, oder die Absage einer geplanten Kulturveranstaltung, wie zuletzt im Fall der Lesung von Kabarettistin Lisa Eckhart.
Umstrittener Humor
Die aus Österreich stammende Künstlerin verwendet bei ihren Auftritten mit Vorliebe rassistische oder sexistische Klischees. In der Rolle als dandyhafte, arrogante Salonlöwin provoziert Lisa Eckhart vor allem durch das Vermeiden jeder Form von political correctness. Einige sehen darin eine geschickte Spiegelung konservativer Mechanismen durch eine Kunstfigur, darunter Eckharts Kabarett-Kollege Dieter Nuhr.
Nicht so Stefanie Sargnagel, die bis auf das Herkunftsland nichts gemein hat mit Eckhart. Die Wiener Autorin und Karikaturistin, die immer wieder mit tiefschwarzem Humor und viel Subversion den rechten Rand der Gesellschaft aufs Korn nimmt – und auch gerne die eigene linke „Bubble“-, sieht Eckharts Kabarett-Nummern als Bestätigung der herrschenden Verhältnisse: sprachlich gut formulierte Schenkelklopfer für Spießer.
Absage aus Angst vor Protesten?
Lisa Eckhart wollte nun im Rahmen des Hamburger Literaturfestivals „Harbour Front“ ihr erstes Buch vorstellen, wurde dann aber von den Veranstaltern zunächst aus- und dann wieder eingeladen – aus Furcht vor linken Protesten. Am Schluss der emotional geführten Debatte sagten Eckhart und ihr Verlag schließlich selbst final ab.
Im Nachhinein stellte sich heraus, dass es gar keine reale Bedrohung gegeben hatte. Dennoch nahm die hessische Landtagsfraktion der rechtspopulistischen Partei AfD die Absage der Lesung als willkommenen Anlass und postete auf Facebook ein Foto von Lisa Eckhart mit der Aufschrift „Linke zerstören Deutschlands Freiheit – Kabarettistin Lisa Eckhart nach Gewaltandrohung von Kulturfestival ausgeladen“.
Eckart und ihr Verlag wiesen in einer aktuellen Presseerklärung am Dienstag (11.08.2020) „diesen plumpen Versuch der Instrumentalisierung“ postwendend zurück und kündigten rechtliche Schritte gegen die hessische AfD an.
Vergleichbare Aufregung gab es kürzlich auch um Dieter Nuhr. Er gehört ebenfalls zu jenen Kabarettisten, die sich auf der Bühne immer wieder gerne über den vermeintlichen Meinungszwang in Deutschland ärgern. Zuletzt fiel Nuhr durch seine Verbalattacken gegen Greta Thunberg, die Gallionsfigur der „Fridays for Future“-Bewegung, auf.
Nuhr war neben anderen Prominenten von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die Netzkampagne „Gemeinsam #fürdasWissen“ um einen Kommentar gebeten worden. Und genau dieser führte zu einem wahren Shitstorm, woraufhin die DFG Nuhrs Beitrag löschte, ohne Nuhr vorher darüber zu informieren.
Nach scharfen öffentlichen Debatten sollte er dann wieder online gestellt werden. Aber zu diesem Zeitpunkt wollte Nuhr selbst das aber nicht mehr. Mittlerweile haben sich Kabarettist und DFG geeinigt: Der umstrittene Beitrag ist wieder online – und alle geben sich zufrieden. Was sich liest wie eine Medienparodie, ist allerdings längst Alltags- und Medienrealität.
Überforderung durch die Angst vor Shitstorms
Zum aktuellen Fall von Lisa Eckhart sagte Stefanie Sargnagel in einem Interview bei Deutschlandfunk Kultur, dass sie sich statt der Absage der Lesung lieber eine öffentliche Diskussion zwischen Eckhart und ihren Gegnern gewünscht hätte. Man könne, so Sargnagel, „mit Protesten auch umgehen“.
So besonnen wie die Wienerin, die selbst häufig von rechter Seite angegriffen wird, reagieren in diesen Tagen die wenigsten. An diesen Beispielen zeigt sich, wie aufgeregt und hyperemotional die Debatte um freie Meinungsäußerung im Netz geworden ist. Nicht nur Kulturveranstalter von Lesungen und Bühnenprogrammen, auch renommierte Institutionen, PolitikerInnen oder öffentlich-rechtliche Sender lassen sich mittlerweile von der Angst vor einem Shitstorm zu Kurzschlusshandlungen verleiten.
So hatte der Westdeutsche Rundfunk (WDR) 2019 nach einigen scharfen Kommentaren von Rechts ein umstrittenes Satirelied, in dem es um das Verhältnis in Umweltfragen zwischen der jungen und älteren Generation ging, aus dem Netz und seiner Mediathek entfernt. Für seine Haltung in der Sache und den Umgang mit den eigenen Mitarbeitern, die sich angesichts rechter Proteste allein gelassen fühlten, wurde der WDR daraufhin scharf kritisiert.
Längst überfällige Debatte
Berichte über umgeworfene Statuen, mediale Anprangerungen in aller Öffentlichkeit und spontan organisierte Proteste erwecken offenbar bei vielen den Eindruck, es gäbe eine neue Form von linker Aggression in der Gesellschaft. Richtig ist: In den letzten Monaten und Jahren werden viele überfällige Debatten in einer größeren Öffentlichkeit verhandelt. Nur dass sie ihren Ursprung auf einer neuen Plattform, nämlich den sozialen Medien, haben – und damit auch eine viel größere, internationale Reichweite.
Ob man nun eine historisch umstrittene Statue gleich umwerfen sollte oder besser eine Plakette anbringen, die den Hintergrund dazu kritisch einordnet oder ob man veraltete, heute als rassistisch oder sexistisch geltende Begriffe aus Romanen und Kinderbüchern eliminieren oder besser mit erklärenden Fußnoten versieht, das sind wichtige Fragen, die nicht nur die Kulturszene noch lange begleiten werden.
Politische Vereinnahmung durch Rechts
Selbst US-Präsident Trump nutzt inzwischen „Cancel Culture“ als Kampfbegriff für die kommende Präsidentschaftswahl. Bei seiner umstrittenen Rede am Nationaldenkmal Mount Rushmore im Juli 2020 ließ er sich über den „Totalitarismus“ seitens der Linken aus. Dabei hat sich Donald Trump selbst mit seinen simplen „Weg damit!“-Forderungen wie „Fire Obama!“ schon wesentlich früher auf dem „Cancel Culture“-Feld getummelt.
Umstrittene Rede: Donald Trump mit Gattin Melania vor dem Mount Rushmore National Memorial (3.7.2020)
Die Heftigkeit der Reaktionen auf ungeliebte Äußerungen des jeweils anderen politischen Lagers ist schon seit Längerem früh und deutlich angestiegen, nicht nur bei Donald Trump. Politisch rechts orientierte Kommentatoren drohten prominenten Frauen wie der Linken-Politikerin Janine Wissler oder der türkischstämmigen Kabarettistin Idil Baydar in E-Mails und in den sozialen Medien nicht erst 2020 sogar mit Vergewaltigung und Mord.
Verallgemeinerung statt fairer Debatte
Mit dem politischen Modewort „Cancel Culture“ wird derzeit auch in Deutschland versucht, etwas zu einem aktuellen Phänomen hochzustilisieren, was in Wahrheit gar nicht neu ist. In ihren jeweiligen Echokammern ereifern sich immer wieder Feuilletonisten in der deutschen Presse über die emotionale Intensität bestimmter Proteste, anstatt in eine inhaltliche Diskussion einzusteigen oder beide Seiten zum Gespräch einzuladen.
Auf diese Weise werden eher Weltuntergangspropheten und Kulturpessimisten befeuert. Solche medialen Scheingefechte lenken von berechtigten Debatten über Inhalte ab. Unfaire oder lautstark agressive Proteste gegen andersartige Meinungen gab es schon immer – von Links wie von Rechts. Das emotionale Niveau der medialen Aufregung darüber ist allerdings neu – und mindestens ebenso nutzlos wie der verallgemeinernde Modebegriff „Cancel Culture“.
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