2019 wurde vor allem über Alexander Zverevs Problemfelder außerhalb des Platzes gesprochen. Doch nach spielerisch verbesserten Leistungen im Herbst hat sich die deutsche Nummer eins in letzter Sekunde für das Finalturnier der besten acht Spieler qualifiziert und greift dort plötzlich nach dem zweiten großen Titel.

Von Jannik Schneider (London)

Etwas mehr als vier Monate ist es her, da saß Alexander Zverev zusammengekrümmt auf einem Stuhl im Presseraum des ehrfürchtigen All England Tennis and Cricket Clubs zu Wimbledon im Südwesten Londons. Der Deutsche hatte die Hände vor seinem Gesicht, wirkte ob der Begleitumstände seiner Erstrundenniederlage gegen den ungesetzten Tschechen Jiri Vesely beim prestigeträchtigsten Turnier des Jahres fassungslos.

„Sie können sich nicht vorstellen, was hier wieder los ist“, erklärte er, dasitzend wie ein Häufchen Elend. Die vergangenen beiden Tage seien sehr hart gewesen: „Mein ehemaliger Manager versucht es mir so schwer wie möglich zu machen – extra vor solchen Turnieren. Ich dachte, wir waren Freunde, waren eng.“ Diese Aussagen, diese Bilder eines verzweifelten Zverevs gingen damals um die Welt.

Ein gänzlich anderes Bild

Nun im November, am gestrigen späten Freitagabend (15.11.2019), bot sich den Beobachtern ebenfalls in London ein gänzlich anderes Bild im inneren der Arena im südlichen Stadtteil Geenwich, in Fußnähe zur Themse. Dort oben auf dem Podium saß der gleiche junge Mann, seine 1,98 Meter mit aufrechter, selbstbewusster Haltung zur Geltung bringend, die Brust nach vorne gerichtet, der Blick klar, die Gesichtszüge entspannt. Nur etwas müde wirkte er nach getaner Arbeit.

Vier Monate können im professionellen Sport eine halbe Ewigkeit ausmachen. Alexander Zverev, seit drei Jahren Deutschlands bester Tennisspieler, hat in dieser Zeit nicht weniger als seine Saison gerettet. Dass er bei den ATP Finals, dem Jahresendturnier der besten acht Spieler der Saison überhaupt dabei sein würde, hätten ihm am Ende der Rasensaison nur kühne Optimisten zugetraut. Nach zwei Siegen gegen die Nummer eins der Welt Rafael Nadal und am Freitag gegen den Newcomer des Jahres Daniil Medwedew steht der 22-Jährige gar im Halbfinale seines Lieblingsturniers. Das gewann er 2018 überraschend. Es war der erste große Titel des gebürtigen Hamburgers mit russischen Wurzeln, von dem Tennis-Deutschland bei den Herren nicht weniger als den ersten Grand-Slam-Titel seit Boris Becker vor 23 Jahren erwartet.

Verstrickungen in Nebenkriegsschauplätze

Doch statt 2019 bei diesen vier wichtigsten Turnieren des Jahres anzugreifen, verstrickte sich der Davis-Cup-Spieler, in dessen bisheriger Karriere es fast immer nur kontinuierlich nach oben gegangen war, zunehmend in sogenannte Nebenkriegsschauplätze.

Im März nach einer langwierigen Grippe machte er einen Rechtsstreit gegen seinen langjährigen Manager, den Chilenen Patricio Apey, öffentlich  – aus damaliger wie heutiger Sicht erscheint der Gang zu den Medien unnötig. Die öffentliche Schlammschlacht und die Schlagzeilen beschäftigten ihn wie beschrieben noch bis Wimbledon.

Wer hat Zverev wann unter Vertrag?

Die Agentur Team8, von Roger Federer und dessen langjährigem Manager Tony Godsick geleitet, galt als Auslöser für die Streitigkeiten. Nach Sportschau-Informationen soll es bereits Ende 2018 einen Vorvertrag beider Parteien gegeben haben. Doch zwischen Zverev und Apey herrscht die größtmögliche Uneinigkeit darüber, wie lange denn ihr Vertragsverhältnis noch Gültigkeit besitzt. Der gewiefte Chilene, der Zverev als globale Marke mit einigen Millionenverträgen positionierte, pocht auf eine Laufzeit bis Ende 2023. Beide Parteien werden sich daher im Herbst 2020 in Großbritannien vor Gericht wiedersehen – vorher gibt es für ein Verfahren dieser Länge keine Kapazitäten.

Seit den US Open im August werden die Geschicke der deutschen Nummer eins tatsächlich von Team8 geführt. Inwieweit Federer und Godsick, die im Tennis nach Einfluss streben, Zverev dort unterstützen werden, ist nicht bekannt. Klar ist aber, dass sie Zverev innerhalb kürzester Zeit Rückendeckung und Stabilität verliehen haben. Zverev lässt sich medial nicht mehr so leicht verunsichern.

Ruhig und besonnen

Als er nach seinem verlorenen Einzel gegen Stefanos Tistsipas mit Vorwürfen konfrontiert wurde, er habe während einer Spielpause vermeintlich an seinem Handy herumgescrollt, antwortete Zverev besonnen und ruhig und verneinte das Ganze: „Vielleicht war es eine Wasserflasche. Das weiß ich nicht mehr so genau.“ Fakt ist: Die Benutzung elektronischer Geräte während einer Partie ist aus Coaching- und Betrugsgründen verboten. Die Bilder konnten keine sichere Aufklärung bieten. Über medizinische Gründe wurde in einigen Medien alsbald spekuliert. Die ATP erklärte auf Anfrage kurz angebunden, dass bei Zverev kein Regelverstoß vorliege.

Doch der beste junge Spieler der vergangenen Saison lässt sich momentan von nichts ablenken, wirkt wieder gefestigt. 2019 war das nicht immer der Fall. Er wirkte spielerisch, mental und kommunikativ mitunter überfordert. Zu den rechtlichen Problemen gesellten sich zwischenzeitlich private. Dann wurde sein Vater, sein langjähriger Trainer krank (mittlerweile ist er wieder genesen). Als wäre das nicht schon längst genug, überwarf sich Zverev im Sommer mit Honorartrainer Ivan Lendl.

Zverev und Lendl – es passte nicht

Der achtmalige Grand-Slam-Sieger sollte Zverev eigentlich dabei helfen, die Transformation vom guten Saisonspieler hin zum erfolgreichen Grand-Slam-Sieger zu bewältigen. Nach anfänglichem Erfolg folgten zusehend mehr kommunikative Schwierigkeiten zwischen den beiden. Auch zwischen dem Vater und Lendl passte es nicht. Nachdem Zverev ihn am Rande des Turniers am Rothenbaum in Hamburg öffentlich anzählte, folgte alsbald die Trennung.

„Ich möchte so ein bisschen wieder dorthin zurückkehren, was mich ausgezeichnet hat, zu meinem alten Umfeld, meiner Familie“, sagte er nach der publik gewordenen Trennung und ließ Taten folgen. Mit dem Vater und seinem langjährigen Fitnesscoach sowie Physiotherapeuten an der Seite erkämpfte sich Zverev trotz erheblichen Formtiefs, spielerischen Problemen vor allem beim sonst so starken Aufschlag, immerhin zum ersten Mal ins Achtelfinale der US Open – sein bis dato schwächstes Grand-Slam-Turnier.

Zurückgewonnenes Selbstvertrauen

Spielerisch und mental stark verbessert qualifizierte sich Zverev dank einer Halbfinal- und einer Finalteilnahme in Asien noch für die ATP Finals in London. Am Ort seines größten Triumphes ist in diesen Tagen eine Symbiose erfolgt. Zverevs zurückgewonnenes Selbstvertrauen hat sich gepaart mit Erinnerungen aus dem vergangenen Jahr. Hinzu kommen die auf sein flaches, hartes Grundlinienspiel perfekt ausgerichteten Bedingungen auf dem schnellen blauen Hardcourt in dieser riesigen Multifunktionshalle.

„Mit Wimbledon kann ich die momentane Situation gar nicht mehr vergleichen. Damals ging es mir allgemein nicht gut, auch privat nicht. Jetzt ist alles viel besser. Es ist schon etwas sehr Besonderes, dass ich mich trotz dieser schwierigen Saison noch für dieses Turnier qualifizieren konnte“, sagte Zverev auf Sportschau-Anfrage.

Dem noch immer so jungen Hoffnungsträger scheint das im Tennis einzigartige Gruppen-Format zu liegen. Anders als etwa bei den Grand Slams geht es dort gegen die besten acht Spieler von Beginn an um alles. Zverev, der seine Körner in der Vergangenheit bei den großen Turnieren gegen vermeintlich leichtere Gegner oft schon in den ersten Runden aufbrauchte, war sofort gegen die stärksten der Welt gefordert – und besiegte in beeindruckender Manier den von einer leichten Muskelverletzung zurückkehrenden Spanier Rafael Nadal. Die Nummer eins der Welt wurde am Freitag nach zwei Siegen gegen Medwedew und Stefanos Tsitsipas mit der Trophäe für die Nummer eins der Weltrangliste am Ende des Jahres ausgezeichnet.

Zverevs Sieg beendet Nadals Halbfinal-Hoffnungen

Lange darüber freuen durfte sich der 19-malige Majorsieger aber nicht. Ausgerechnet Zverev beendete die rechnerischen Möglichkeiten auf ein Weiterkommen in der Gruppe gegen Medwedew, die Tsitsipas und Zverev an vorderster Front beendeten. Der Grieche hatte Zverev die bis hierhin einzige Niederlage zugefügt.

Für den Deutschen, der kommende Woche auf das reformierte Davis-Cup-Finale in Madrid verzichtet und stattdessen mit Roger Federer gleich vier Showeinzel in Südamerika bestreitet, geht es am Samstag (ab 21 Uhr) gegen seinen guten Kumpel Dominic Thiem. Der Österreicher besiegte in der anderen Gruppe nacheinander Roger Federer und Novak Djokovic. „Diese beiden zu besiegen, dann noch hintereinander, das ist eine besondere Leistung“, sagte Zverev einordnend. Der Wahlmonegasse muss es wissen. Vor einem Jahr war ihm dieses Kunststück an gleicher Stelle gelungen.

Kommt Boris Becker ins Spiel?

Beim Warm-up vor dem Spiel in der Vorschlussrunde wird aller Voraussicht nach auch Boris Becker wieder zugegen sein. In seiner Funktion als Head of German Tennis beim deutschen Tennisbund (DTB) ist er als „Freund und Unterstützer“ schon bei einer Vielzahl von Zverevs Trainingseinheiten dabei gewesen – ohne die Autorität des Vaters zu untergraben. Doch auch am Freitag nutzte Becker, nach einer Knieoperation momentan auf Krücken angewiesen, eine Trainingspause, um sich mit seinem potenziellen Nachfolger auszutauschen, ihm Mut zuzusprechen und vereinzelt Tipps zu verteilen.

Zverev selbst gab unlängst im Interview mit der „Sportbild“ an, sich nach der Saison mit Becker unterhalten zu wollen. Eine intensivere Zusammenarbeit scheint im Bereich des Möglichen, denn auch Becker ist dem Engagement nicht abgeneigt.

Zunächst will Zverev seiner Achterbahnsaison aber noch einen nicht für möglich gehaltenen Abschuss verpassen. So lange das Selbstvertrauen stimmt, ist dem deutschen Topspieler in seiner Wohlfühlzone bei den ATP Finals alles zuzutrauen.

Quelle: sportschau.de

Über dieses Thema berichtete NDR Info am 16. November 2019 um 07:15 Uhr in den Nachrichten.

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