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Als Erstes hat die FDP klargestellt, was sie nicht will. Ein allgemeines Tempolimit ist ausgeschlossen, ein Verbot von Autos mit Verbrennungsmotoren auch.
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Das Wort »Verkehrswende« ist nicht eben die Lieblingsvokabel der Liberalen, im Vertrag der Ampelkoalition taucht es nicht auf. Aber Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat das Thema in seiner ersten Regierungserklärung vor dem Bundestag als »zentraler Pfeiler unserer Klimapolitik« benannt. Dafür zuständig: das Verkehrsministerium unter Volker Wissing (FDP), der im Wahlkampf noch über Lastenräder als »grünes Öko-Biedermeier« herzog. Die Passion von Parteichef Christian Lindner für Porsches und »alles, was mit Benzin betankt werden kann« ist legendär.
Um die vereinbarten Klimaziele im Verkehr zu erreichen, müsse die Regierung aber über das hinausgehen, was im Koalitionsvertrag steht, sagt Christian Hochfeld, Direktor der Organisation »Agora Verkehrswende«. Dafür müsse Wissing in den ersten 100 Tagen einen Plan vorlegen. »Es geht nicht um eine liberale Agenda, der Minister steht im Dienst dieses Landes.«
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Schiene soll mehr Geld bekommen als Straßenbau
Die Erwartung an Wissing ist hoch und niedrig zugleich: hoch, weil so viel davon abhängt, das Land von seiner Benzinsucht zu kurieren; niedrig, weil kaum jemand der FDP zutraut, die Autofahrer auf Entzug zu setzen. »Die Menschen mitnehmen« will Wissing – aber wohin?
»Mehr Fortschritt wagen, die Dekarbonisierung besonders des Verkehrs vorantreiben – das ist eine riesige Chance für den Umwelt- und Klimaschutz und das, was wir als Koalition und als FDP vorhaben«, stellt Daniela Kluckert klar. Die Berliner Abgeordnete ist nun Parlamentarische Staatssekretärin in Wissings Ministerium. In der vorigen Legislaturperiode machte sie sich einen Namen als Fürsprecherin der Zulassung von Elektro-Tretrollern und anderen alternativen Kleinfahrzeugen.
Jetzt sind größere Linien angesagt. Mit dem SPIEGEL spricht Kluckert vor einer Fahrt mit der Bahn, die unter der Ampel erstmals mehr Geld bekommen soll als der Straßenbau.
Wissing als »Anwalt der Autofahrer« – ein Missverständnis?
In ersten Interviews betonte auch Minister Wissing den Schwerpunkt auf der Schiene. Der über die »Bild«-Zeitung entstandene Eindruck vom Anwalt der Autofahrer – ein ärgerliches Missverständnis? Tatsächlich ist der Koalitionsvertrag zum Ausbau der Bahn ausführlich und verbindlich, im Gegensatz zu anderen Verkehrsthemen. Aber ist das wirklich ein Herzensthema für die Liberalen, die es nun umsetzen sollen?
Wissing war zuvor immerhin fünf Jahre lang als Wirtschaftsminister der Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz auch für Verkehr zuständig und profilierte sich als Förderer der Bahn. Seine Südpfälzer Heimat Bad Bergzabern zählt zu den wenigen Orten in Deutschland, die von einem reaktivierten Bahnanschluss profitieren – bald sollen es mehr werden.
Das im Januar 2021 vom Landtag beschlossene Nahverkehrsgesetz bewarb er als »das modernste in Deutschland«. Die Planung des Bus- und Bahnangebots wird nun landesweit koordiniert, diese »Daseinsvorsorge als Pflichtaufgabe« für Kommunen vorgeschrieben, auch wenn sie überschuldet sind.
Volker Wissing als FDP-Generalsekretär zu Beginn der Sondierungsgespräche für die Ampelkoalition
Foto: Michael Kappeler / picture alliance / dpa
Weniger begeistert von dem Gesetz zeigten sich Landräte, Gewerkschaften und Verbände wie Pro Bahn oder Verkehrsclub Deutschland: Knackpunkt sei die Finanzierung. Nur wenn die Kommunen genug Geld für diesen Zweck erhielten, könnten sie die hehren Ziele der Mainzer Ampelkoalition auch erreichen.
Genau dafür dürfte die FDP nun auf Bundesebene sorgen, in einer ungewohnten Rolle: Mit dem jüngsten Schuldenbeschluss erfand Finanzminister Lindner seine eigene Haushaltsdoktrin als »Ermöglichungsminister« für Investitionen neu. Erst seit es die Ampel in Berlin gibt, wagt auch die Ampel in Mainz einen Schuldenschnitt für die in Rheinland-Pfalz besonders tief in der Kreide stehenden Städte und Gemeinden. Davon könnte der Nahverkehr profitieren.
Im Sinn dieser neuen Finanzpolitik könnten die Liberalen den Staatskonzern Deutsche Bahn als nützliches Instrument schätzen, wenn sie ihn vielleicht schon nicht lieben lernen. Die Bahn ist eines der wichtigsten Vehikel, um trotz Schuldenbremse Milliarden für die grüne Zukunft des Landes locker zu machen: ein großes Unternehmen, das eigenständig am Kapitalmarkt auftreten kann und dank Staatsgarantie eine hohe Kreditwürdigkeit genießt, ohne dass seine Verbindlichkeiten in der Statistik als Staatsschulden zählen.
Starker Staat für Ladesäulen
Von einer Privatisierung oder Zerschlagung der Bahn redet auch die FDP nicht mehr. Die Struktur des Konzerns solle effizienter und transparenter werden, damit die vom Bundestag bewilligten Mittel zielgerichtet in der Infrastruktur ankommen, sagt Staatssekretärin Kluckert.
Für eine Million Stromladestellen wird der Bund auch selbst investieren müssen
Foto: Michael Gstettenbauer / IMAGO
Auch eine Million öffentlicher Ladesäulen bis 2030 zu errichten, dürfte einen aktiven Staat erfordern. Wissing sieht ein Problem »wie zwischen Henne und Ei – irgendetwas muss mal zuerst kommen«: entweder genug Elektroautos, damit sich private Investitionen in die Ladeinfrastruktur lohnen – oder ausreichende Ladeinfrastruktur, die zum Kauf solcher Fahrzeuge ermutigt.
Da kommt der Bund ins Spiel. Staatssekretärin Kluckert verweist auf Beispiele wie unbewirtschaftete Autobahnparkplätze ohne Tankstelle und Stromanschluss, wo kaum Unternehmer die benötigten Ladepunkte bauen wollten. »Da müssen wir schnell handeln. Und deshalb startet die Autobahn GmbH jetzt auch die Ausschreibung.« Daneben sei auch die Infrastruktur der Bahn und anderer öffentlicher Unternehmen zu nutzen. Andererseits: »Wo es den Markt gibt, müssen seine Kräfte entfesselt werden.«
Faktisch hat die FDP ihre kritische Haltung gegenüber batterieelektrischen Autos zugunsten des Eintritts in die neue Koalition stark relativiert. Autokonzerne, die voll auf batterieelektrischen Antrieb setzen, registrieren erleichtert, dass die Liberalen diese Strategie nicht mehr so sehr infrage stellen. Topmanager empfanden manche, auch von Liberalen mit dem Schlagwort »technologieoffen« befeuerte Diskussionen über Alternativen wie Wasserstoff, E-Fuels (mit Ökostrom erzeugtes synthetisches Benzin) oder gar Flugtaxis mitunter als Bremsmanöver, um Zeit für den Verbrennungsmotor zu gewinnen.
Als Bremserin will Daniela Kluckert ihre Partei nicht verstanden wissen. Das Ziel von 15 Millionen Elektroautos in diesem Jahrzehnt steht im Zentrum. Die anderen Themen müssten aber auch noch eine Rolle spielen, »wenn wir es mit der Dekarbonisierung des Verkehrs ernst meinen«. Denn nur die Neuwagen zu elektrifizieren, würde die Klimabilanz nicht retten. Aktuell sind mehr als 48 Millionen Pkw in Deutschland gemeldet. Um die große Mehrheit der Autos im Bestand von fossilen Brennstoffen zu befreien, hält die FDP E-Fuels weiterhin für sinnvoll. Die wasserstoffbetriebene Brennstoffzelle bekäme auch noch eine Rolle, etwa im Schwerlastverkehr.
Freiheit für die Kommunen
Mit einer reinen Antriebswende sei es zudem nicht getan, bekennt die FDP-Politikerin. »Die Menschen wollen Fahrrad fahren, es ist nachhaltig und gesund – natürlich werden wir das fördern.« Dabei seien zwar vor allem die Kommunen gefragt. Der Bund könne ihnen aber helfen, indem er etwa die Bedingungen lockere, damit Fördergeld für Schnellradwege auch abgerufen werde. »Die Regeln sind viel zu starr.«
Mehr als 70 Städte und Gemeinden fordern das Recht, flächendeckend Tempo 30 einzuführen
Foto: Michael Gstettenbauer / IMAGO
Freiheit für die Kommunen statt zentraler Regulierung – »das liegt in der DNA dieser Partei«, argumentiert auch Christian Hochfeld von der Agora Verkehrswende. Als Paradebeispiel nennt er eine Initiative von Städten, die flächendeckend Tempo 30 einführen wollen. Im Juli starteten sieben Kommunen eine Initiative dafür, darunter Leipzig oder Hannover. Inzwischen sind es mehr als 70.
Um das zu erlauben, ohne dass die Rathäuser jede einzelne Tempo-30-Zone mit konkreten Sicherheitsgefahren begründen müssen, wäre das Straßenverkehrsgesetz zu ändern. »Das kann auch schnell gehen«, sagt Hochfeld. Allerdings müsste die FDP bereit sein, Autofahrer etwas aufzuschrecken, nachdem gerade erst neue Regeln wie Mindestabstände zu Radfahrern und höhere Bußgelder in Kraft getreten sind.
Ebenso »gut mit den liberalen Werten, wie sie auch im Wahlprogramm enthalten waren, zusammenpassen« würde nach Hochfelds Meinung ein Abbau klimaschädlicher Subventionen. Dazu ist der Koalitionsvertrag undeutlich, in manchen Fällen wie der Pendlerpauschale opponierte die FDP noch hart. Reformen der Kfz-Steuer oder der Dienstwagensteuer könnten trotzdem kommen, wenn auch nicht sofort.
Vorbilder für Verkehrswende oder Autolobby?
Diese Appelle an das liberale Selbstverständnis könnten sich als Wunschdenken erweisen – oder eine goldene Brücke bauen. Je nachdem, wie schwer in der politischen Realität die Anspruchshaltung der PS-Klientel wiegt.
Gratis-Tram im liberal regierten Luxemburg (Archivbild von 2019)
Foto: Harald Tittel/DPA
In Nachbarländern, wo Schwesterparteien der FDP regieren, zeigt sich, dass auch Liberale Vorbilder in der Verkehrswende sein können. Frankreich lässt seine Städte in einen Wettbewerb treten, wer den Autoverkehr effektiver eindämmt. Die Niederlande geben dem Fahrrad Vorrang und akzeptieren Tempo 100 auf Autobahnen. Luxemburg bietet den öffentlichen Verkehr gratis an, einschließlich eines modernen, neuen Straßenbahnsystems.
Doch die deutschen Liberalen ticken womöglich etwas anders. In vielen Kommunen geben sie ein eher gemischtes Bild ab, mit Tendenz zum Klischee der PS-Partei. Die Citybahn in Wiesbaden scheiterte maßgeblich am Widerstand der örtlichen FDP. In nordrhein-westfälischen Städten, die mit Erlaubnis des Landes Vorschriften zur Zahl der Parkplätze lockern, machen häufig Liberale Stimmung gegen so viel Freiheit – aus Sorge darum, dass Stellplätze knapper und teurer werden.
Auf der anderen Seite rühmt sich die Partei, dass Karlsruhe immer wieder vom Fahrradklub ADFC zur radfreundlichsten Großstadt gewählt wird, nachdem die FDP über 30 Jahre lang dort die »Fahrradbürgermeister« stellte. Diese schufen Radwege und -stellplätze, warben für einen Konsens in der Stadt, auch wenn den Autos Platz genommen wurde.
Im Bund wäre ein mögliches Szenario, dass die Liberalen als Schutzmacht der Autofahrer in der Ampelkoalition auftreten. Ein anderes Szenario wäre, dass sie den Wandel beschleunigen, aber modern und pragmatisch verpackt – ohne den Ballast des Kulturkampfs, mit dem sich die Grünen immer wieder selbst belasten.
Digital first – gut für die Mobilität
Für die Bahn könnte es sogar von Vorteil sein, dass im Namen des Wissing-Ministeriums das Digitale an erster Stelle steht, noch vor dem Verkehr. »Wo wir deutlich beschleunigen müssen, ist die Digitalisierung der Schiene«, sagt Agora-Direktor Hochfeld. Der beschlossene Ausbau der Infrastruktur sei positiv, werde aber Jahre dauern. Um möglichst schnell Engpässe zu beseitigen, könnte etwa das europäische automatisierte Signalsystem ETCS helfen, das bisher erst an wenigen Hundert Streckenkilometern installiert ist.
Auch eine Vernetzung der Buchungssysteme vom Leihfahrrad bis zur Bahn »wäre ein Riesenschritt nach vorn«, so Hochfeld, ebenso wie das Verknüpfen des traditionellen Linienverkehrs mit On-Demand-Diensten wie Rufbussen auf dem Land oder in Vororten.
»Kluge Verkehrspolitik ist heutzutage in den meisten Fällen auch digital«, sagt Staatssekretärin Kluckert – und nennt ein Beispiel, das der PS-Fraktion nicht unbedingt gefallen dürfte: automatisch an Verkehrsdichte oder Witterung angepasste Geschwindigkeitsanzeigen an Autobahnen. So könne man für mehr Sicherheit sorgen, weniger Staus und damit auch weniger Emissionen, »und das ganz ohne Verbote«.
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