Die dramatischen Szenen aus Kabul gehen seit Tagen um die Welt. Nach dem Rückzug der NATO aus Afghanistan haben die radikal-islamistischen Taliban das Land innerhalb kürzester Zeit unter ihre Kontrolle gebracht. Wie konnte es so weit kommen? Und wer trägt die Verantwortung für das Scheitern des Westens am Hindukusch?

Darüber diskutierte Sandra Maischberger in ihrer ARD-Talkshow am Mittwochabend mit den Außenpolitikern Norbert Röttgen (CDU) und Gregor Gysi (Linke). Außerdem berichteten die in Afghanistan geborene Ethnologin Shikiba Babori und der Bundeswehr-Hauptmann Marcus Grotian über die aktuelle Situation vor Ort. ZDF-Moderator Theo Koll, „Spiegel“-Journalist Markus Feldenkirchen und die WELT-Chefreporterin Anna Schneider, kommentierten die Diskussion.

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In einem einzigen Punkt waren sich Norbert Röttgen und Gregor Gysi an diesem Abend einig: Die Bundesregierung habe in ihrem strategischen Handeln in Afghanistan versagt, gaben beide deutlich zu verstehen. Gysi stellte gar den gesamten Nato-Einsatz am Hindukusch infrage: „Es hat keinen Sinn, mit militärischen Mitteln Afghanistan umstülpen zu wollen“, so der außenpolitische Sprecher der Linken-Fraktion im Bundestag.

Von links nach rechts: Markus Feldenkirchen ("Spiegel"-Autor), Anna Schneider (WELT-Chefreporterin), Theo Koll (Leiter des ZDF-Hauptstadtbüros), Sandra Maischberger
Von links nach rechts: Markus Feldenkirchen („Spiegel“-Autor), Anna Schneider (WELT-Chefreporterin), Theo Koll (Leiter des ZDF-Hauptstadtbüros), Sandra Maischberger
Quelle: WDR/Oliver Ziebe/© WDR

Mit dieser Argumentation konnte CDU-Politiker Röttgen nur wenig anfangen. Der Einsatz habe Jahrzehnte der Taliban-Herrschaft verhindert, argumentierte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, doch die Truppen hätten das Land viel zu früh verlassen: „Afghanistan war noch nicht so weit.“ Es sei eine „fatale Fehlentscheidung“ von US-Präsident Joe Biden gewesen, den von seinem Vorgänger Donald Trump verhandelten Rückzug der amerikanischen Soldaten nicht zu stoppen, so Röttgen.

„Wir haben das Land im Stich gelassen“

„In 20 Jahren wäre die gleiche Situation eingetreten“, entgegnete Gysi und schlug stattdessen eine Alternative vor, die angesichts der aktuellen Bilder fast bizarr anmutete: Nach dem Vorbild des Prinzips „Wandel durch Annäherung“, das Willy Brandts Außenpolitik gegenüber der DDR geprägt hatte, könne der Westen Hilfsleistungen anbieten, die an humanistische Bedingungen geknüpft sind – etwa für den Bau einer Schule, in der auch Mädchen unterrichtet werden dürfen.

„Das kann ich nicht als Argument akzeptieren“, setzte Röttgen den Schlagabtausch fort. Eine Lösung könne er zu diesem Zeitpunkt aber auch nicht anbieten: „Wir haben das Land im Stich gelassen“, sagte er, „wie wir da jetzt wieder reinkommen ist irre schwer.“ Durch den Rückzug entstehe ein Vakuum, das Länder wie China oder Russland einnehmen könnten.

Was die Ratlosigkeit der Nato-Länder für die Menschen vor Ort bedeuten könnte, erläuterte Shikiba Babori, die in Afghanistan geboren wurde und dort als freie Journalistin gearbeitet hat. „Die Angst ist sehr, sehr groß“, sagte die Ethnologin, die Menschen fühlten sich „von allen Seiten verraten.“ Vor allem Frauen und Journalisten in Afghanistan hätten in den letzten Jahren viele Unsicherheiten auf sich genommen, um für ihre Freiheiten einzustehen. Diese Gruppen nun besonders gefährdet, so Babori. Die Taliban gäben sich in aktuellen Statements zwar moderater als zuvor, „aber das sind nur Lippenbekenntnisse.“

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Welche Lehren aus den Erfahrungen am Hindukusch gezogen werden können, hatte zuvor die Journalistenrunde diskutiert. Der Westen hätte an eine Illusion geglaubt, „dass wir dort ein System aufbauen können, das unserem ähnelt. Das ist in Afghanistan brachial gescheitert“, machte ZDF-Journalist Theo Koll deutlich. „Andere Staaten zu Werten umerziehen zu wollen, die uns wichtig sind, hat eigentlich noch nie geklappt“, pflichtete Markus Feldenkirchen, Autor im „Spiegel“-Hauptstadtstudio, bei.

Die Ereignisse der vergangenen Tage haben Feldenkirchen geradezu fassungslos gemacht: „Warum erzählen uns Politiker in Deutschland, in Amerika, bis Ende letzter Woche, dass zumindest rund um Kabul die Situation noch im Griff sei, dass man sich keine Sorgen machen müsse – ohne jede Ahnung zu haben, dass die Taliban größtenteils schon längst in die Stadt geschlichen waren?“ Das kann er sich offenbar nur mit Inkompetenz erklären: „Ich frage mich: Was machen Sicherheitsdienste im Westen eigentlich beruflich?“

WELT-Chefreporterin Anna Schneider betonte, dass das Scheitern in Afghanistan nicht bedeuten könne, demokratische Werte grundsätzlich nicht mehr verteidigen zu wollen. „Es mangelte an der Strategie, am Vorgehen – nicht an den Werten an sich.“

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Das strittigste Thema an diesem Abend war jedoch ein anderes: Die Evakuierung von Ortskräften, die in Afghanistan für deutsche Institutionen gearbeitet haben. Bundeswehr-Hauptmann Marcus Grotian, der als Gründer des „Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte“ direkt an der Evakuierung aus Kabul beteiligt ist, übte scharfe Kritik an der Bundesregierung: Weil viele der Helfer über lokale Subunternehmen statt direkt beim deutschen Staat beschäftigt sind, hätten sie kaum eine Chance auf ein Visum gehabt.

Nun sei es für viele bereits zu spät, berichtete Grotian: „Montag war einer der schwärzesten Tage. Wir hatten keine Möglichkeit mehr, wie wir den Ortskräften irgendwie noch helfen konnten.“ Weil die Taliban Berichten zufolge gezielt auf der Suche nach „Verrätern“ seien, die mit westlichen Ländern zusammengearbeitet haben, mussten laut Grotian einige Safe Houses für deutsche Ortskräfte aufgelöst werden.

„Die Bundesregierung müsste eigentlich zurücktreten“

Man hätte die Menschen viel früher und unbürokratischer aus dem Land herausholen müssen, betonte der Soldat, der selbst einmal in Afghanistan stationiert war. Nun, nach der Machtübernahme der Taliban, seien sie „in einer Position, in der man nur noch hoffen kann.“ Linken-Politiker Gysi schlug ähnliche Töne an: Dass die Regierung durch solche Regelungen bewusst die Verantwortung für Ortskräfte meide, sei „menschlich unfassbar.“ Schließlich wurde er noch deutlicher: „Das ist eine so schwere Niederlage der Bundesregierung, dass sie eigentlich zurücktreten müsste.“

Bereits im Mai habe es einen Antrag der Opposition im Bundestag gegeben, die Mehrheit der Ortskräfte aus Afghanistan zurückzuholen, erinnerte Gysi, der allerdings mehrheitlich abgelehnt wurde. Auch Röttgen räumte ein, dass sich die Große Koalition nicht ausreichend auf das nun eingetretene Szenario vorbereitet habe. „Die Lage ist so ernst und dramatisch, dass ich für keinerlei Parteipolitisierung irgendein Verständnis habe. Darum habe ich auch die Verantwortung der Regierung öffentlich benannt.“ Diese Erkenntnis kommt möglicherweise zu spät: Noch im Mai hatte die Unionsfraktion gegen den Antrag der Opposition gestimmt – aus parteipolitischen Gründen, wie er andeutete.

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