Desaster ohne persönliche Konsequenzen

Rücktritt? Das Wort sei in der Kabinettssitzung nicht gefallen, stellte Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch klar, dafür gebe es auch keinen Grund.

Das sehen so einige im Berliner Politikbetrieb angesichts des Afghanistan-Desasters anders, vor allem in der Opposition. Deren Rücktrittsforderungen richten sich gegen SPD-Außenminister Heiko Maas (Lage falsch eingeschätzt), gegen CDU-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (Bundeswehr zu spät losgeschickt), gegen CSU-Innenminister Horst Seehofer (Visavergabe an afghanische Ortskräfte verzögert) oder gleich gegen die ganze Bundesregierung (kollektives Totalversagen).

Typisches Oppositionsgepolter, so könnte man die Rufe abtun. Tatsächlich aber gab es schon deutlich abwegigere Anlässe, um Minister an ihre politische und moralische Verantwortung zu erinnern.

Dennoch wird wohl niemand der Genannten seinen Hut nehmen, vorausgesetzt, bei der laufenden Evakuierungsoperation geht nichts weiter schief. Es mag paradox klingen, aber wenn alle versagt haben, dann sieht sich am Ende keiner gezwungen, den eigenen Kopf hinzuhalten. Zudem dürfte – ein gutes Argument ist das wohlgemerkt nicht – die nahende Bundestagswahl die angezählten Kabinettsmitglieder retten.

Die eine oder andere aktuelle Oppositionspartei möchte mit Union oder SPD womöglich bald regieren, weswegen man den Druck jetzt wohl nicht maximal steigern wird. Wer will schon jene verärgern, mit denen er demnächst über eine Koalition verhandeln muss?

Dazu kommt: Die Kanzlerin tritt ohnehin ab, auch Horst Seehofer beendet seine Karriere, und Heiko Maas‘ Chancen, bei einer erneuten SPD-Regierungsbeteiligung noch mal einen Ministerposten zu ergattern, wurden in der eigenen Partei schon vor dem Afghanistan-Debakel als ziemlich gering eingeschätzt. Jetzt dürften sie sich endgültig erledigt haben.

Bliebe noch Kramp-Karrenbauer. Von der war zuletzt zu hören, dass sie sich durchaus vorstellen könnte, das Verteidigungsressort weiterzuführen, sollte die CDU es in einer neuen Regierung erneut besetzen. Dass es für AKK unter einem Kanzler Armin Laschet weitergeht, ist auch jetzt nicht ausgeschlossen – ihr Ministerjob gehört nicht unbedingt zu den begehrtesten.

Ein Team von SPIEGEL-Redakteurinnen und -Redakteuren hat in den vergangenen Tagen recherchiert, wie es zu den fatalen Fehleinschätzungen innerhalb der Bundesregierung kam. Die große Rekonstruktion können Sie im Laufe des Tages auf SPIEGEL.de lesen.

Warum lag der BND in Afghanistan daneben?

Auch der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND) ist in Erklärungsnot. Heute Morgen wird BND-Präsident Bruno Kahl zu einer Sondersitzung der Geheimdienstkontrolleure des Bundestags erwartet. In der geheimen Runde wollen die Abgeordneten erfahren, ob der BND die Regierung in den letzten Wochen nicht präzise genug mit Informationen über die drohende Machtübernahme durch die Taliban fütterte oder die Agenten den drohenden Fall von Kabul gar verschliefen.

Es wäre ein Armutszeugnis. In kaum einer anderen Krisenregion der Welt dürfte der BND so präsent gewesen sein, so viele Kontakte gepflegt haben, so viele Möglichkeiten zur Aufklärung gehabt haben wie in Afghanistan – der 20 Jahre währende Bundeswehreinsatz machte es möglich. Und doch schätzte der deutsche Auslandsgeheimdienst die Lage nach dem Abzug der internationalen Truppen offenbar falsch ein.

Noch am vergangenen Freitag, zwei Tage vor der Einnahme Kabuls, bezeichnete ein BND-Vertreter in der Sitzung des Krisenstabs einen militärischen Vormarsch der Taliban nach Kabul als »eher unwahrscheinlich«. Das Protokoll des vertraulichen Treffens wurde sicher nicht zufällig publik, liefert es doch Munition für das derzeitige blame game in Berlin: Wenn die Fachleute falschliegen, wie soll die Politik dann richtige Entscheidungen treffen?

Warum aber lagen die BND-Analysten daneben? Haben sie die Dynamik der Ereignisse schlicht unterschätzt? Haben sie ein Urteil allein über die militärische Schlagkraft der Terrormiliz gefällt und dabei das Szenario der kampflosen Kapitulation der afghanischen Regierung und ihrer Armee nicht einmal in Erwägung gezogen?

Nach SPIEGEL-Informationen musste BND-Präsident Kahl bereits gestern im Verteidigungsausschuss in geheimer Sitzung geknickt einräumen, dass sein Dienst – wie andere Dienste auch – das Tempo des Taliban-Vormarsches und die rasante Implosion der afghanischen Regierung nicht vorausgesehen habe. Stattdessen rechnete man damit, dass die Taliban Kabul mit Kämpfern umstellen und abriegeln wollten, um so letztlich den Sturz der Regierung zu erzwingen.

Als Ausrutscher, so viel ist klar, wird Kahl das nicht abtun können. Stattdessen stellt sich die grundsätzliche Frage: Wenn der BND in Afghanistan zu einer solchen Fehleinschätzung kommt, was sind dann die Urteile der Agenten in anderen Regionen mit deutlich weniger Aufklärungsmöglichkeiten wert?

BGH entscheidet über NSU-Revisionen

Knapp 21 Jahre nach dem Mord an Enver Şimşek, dem ersten Opfer des »Nationalsozialistischen Untergrunds«, wird der Bundesgerichtshof bekannt geben, ob er das Urteil gegen Beate Zschäpe bestätigt.

Im Juli 2018 hatte das Oberlandesgericht München die Rechtsterroristin als Mittäterin der Morde und Anschläge des NSU zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt – sodass sie nicht nach 15 Jahren auf Bewährung entlassen werden kann. Auch vier Mitangeklagte wurden damals nach einem Mammutverfahren schuldig gesprochen, nur ein Urteil aber ist bisher rechtskräftig.

An diesem Donnerstag nun entscheidet der BGH über die eingereichten Revisionen Zschäpes und der anderen NSU-Helfer Ralf Wohlleben und Holger G. Wohlleben war wegen Beihilfe zum Mord zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, G. wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu drei Jahren. Im Fall von André E., der ebenfalls wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zweieinhalb Jahre bekam, ist der Generalbundesanwalt nicht mit dem Schuldspruch zufrieden – er hatte zwölf Jahre für Beihilfe zum Mord gefordert.

Die Frage ist, ob der BGH der Argumentation der Münchner Richter folgt, dass Beate Zschäpe »gleichberechtigte« Mittäterin der zehnfachen Todesschützen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt war – obwohl sie an keinem Tatort war, keine Waffe in der Hand hielt, keine Bombe zündete.

Es gibt darauf für Deutschlands oberste Strafrichterinnen und -richter keine einfache Antwort: Erkennen sie in Zschäpe nur eine Gehilfin und keine Mittäterin, würde am Ende niemand für die zehn NSU-Morde zur Rechenschaft gezogen. Die Haupttäter Mundlos und Böhnhardt sind tot. Folgt der BGH dem OLG, stünde das womöglich im Widerspruch zu früheren Entscheidungen, bei denen die Mittäterschaft deutlich enger definiert wurde.

Mit den Angehörigen Enver Şimşeks hoffen auch die Familien der anderen Opfer, dass der BGH das Urteil hält und Zschäpe im Gefängnis bleibt. Für sie hat die 46-Jährige, die seit mehr als neuneinhalb Jahren in Untersuchungshaft sitzt, alle Entscheidungen des NSU mitgetragen. »Für die Hinterbliebenen könnte die Entscheidung des BGH eine Chance sein, die juristische Aufarbeitung abzuschließen«, sagt meine Kollegin Julia Jüttner, die das NSU-Verfahren über all die Jahre beobachtet hat. »Ihr Schmerz, ihre Trauer, der Verlust werden bleiben.«

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Ihr Philipp Wittrock

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