Die ersten Lockerungen in der Corona-Krise sind da – und mit ihnen ist gleich ein Streit darüber entbrannt, ob wir bald weitere Erleichterungen brauchen oder ob das, was jetzt umgesetzt wird, schon zu viel des Guten ist. Kanzlerin Angela Merkel jedenfalls warnte davor, in „Öffnungsdiskussionsorgien“ zu verfallen. Kurz darauf legte sie im Bundestag nach: „In Teilen sehr forsch, um nicht zu sagen zu forsch“ komme ihr vor, wie die neuen Freiheiten ausgelegt und umgesetzt werden.

Um die Frage, welches Maß an Lockerungen zu verantworten ist, ging es auch in Maybrit Illners Talkshow, unter dem Motto „Deutschland macht auf – mutig oder riskant?“ Im Studio saßen der VW-Chef Herbert Diess, der Virologe Hendrik Streeck, der eine viel diskutierte Studie in der Stadt Gangelt, einem der deutschen Corona-Hotspots, initiiert hat, sowie der Grünen-Politiker Cem Özdemir, der selbst an Covid-19 erkrankt war.

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Die Gäste in der ZDF-Sendung „maybrit illner“: Cem Özdemir, Hendrik Streeck, Maybrit Illner, Herbert Diess. Auf der Vidiwall: Malu Dreyer und Mai Thi Nguyen-Kim
Quelle: ZDF/Svea Pietschmann

Zugeschaltet waren die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) und die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim, die unter anderem die WDR-Sendung „Quarks“ moderiert. Anfang April machte ein YouTube-Video der Journalistin Furore, in dem sie eindringlich vor zu viel Gelassenheit angesichts des Coronavirus warnte. Beinahe sechs Millionen mal wurde das Video bislang abgerufen.

Der einprägsame Vergleich

Übertreiben es die Länder mit ihren Lockerungen? Hat Angela Merkel mit ihrer harschen Kritik recht? Darüber etwa, dass in Rheinland-Pfalz nun sogar ein großes Outlet-Center öffnen dürfe, war die Kanzlerin, so heißt es, enorm erbost. Doch die Ministerpräsidentin, die für diese Öffnung verantwortlich ist, schob die Kritik entschlossen beiseite: „Wir sind nicht zu forsch“, erklärte die aus Mainz zugeschaltete Malu Dreyer. „Wir handeln mit größter Sorgfalt“, sagte sie resolut. Denn schließlich sei sie dazu verpflichtet, das Beschlossene „juristisch sauber“ umzusetzen. Von Zweifeln jedenfalls sah man bei Dreyer keine Spur.

Mai Thi Nguyen-Kim dagegen ist wegen der Lockerungen besorgt. Sie hätte sich gewünscht, dass die strengeren Corona-Maßnahmen noch länger gegolten hätten. Ihre Angst: Was mühsam erkämpft wurde, wird nun wieder aufs Spiel gesetzt. Hätte man noch eine Zeit lang mit den Lockerungen gewartet, wäre die Chance, die Ausbreitung des Virus nachhaltig zu bremsen, größer. Die Wissenschaftsjournalistin befürchtet deshalb, dass es zu neuen Infektionswellen kommen könnte – und dass dann ein neuer strenger Lockdown notwendig wird. „Wenn wir jetzt einen Zentimeter in die falsche Richtung gehen, könnten wir mehrere Meter abrutschen.“

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Mit einem einprägsamen Vergleich beschrieb sie ihre Sorgen: Bietet man einem Kind an, dass es entweder sofort einen Marshmallow bekommt oder es, wenn es sich 15 Minuten geduldet, zwei Portionen der Süßigkeit erhält, dann würden sich viele Kinder dafür entscheiden, sofort zu naschen. Und so kindisch, das spürte man, erscheinen der Journalistin nun auch die aus ihrer Sicht verfrühten Lockerungen.

„Wir sind gerade erst am Anfang der Pandemie“, warnte die Mai Thi Nguyen-Kim Und: „Wir dürfen das exponentielle Wachstum der Erkrankungen nicht vergessen.“ Die Gefahr, dass sich die Intensivbetten in Deutschland füllen könnten, sei noch nicht gebannt.

Die umstrittene Studie

Hendrik Streeck, der an der Universität Bonn forscht und lehrt, ist im Moment einer der bekanntesten, aber auch einer der umstrittensten Virologen des Landes. Das hängt mit einer Studie zusammen, die er in Gangelt im nordrhein-westfälischen Kreis Heinsberg durchführt. Dort hatten sich bei einer Karnevalssitzung besonders viele Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Noch vor Abschluss der Untersuchung, bei der 1000 Personen aus der Gemeinde getestet werden, hatte Streeck erste Ergebnisse medienwirksam veröffentlicht. Rund 15 Prozent der Menschen aus Gangelt haben demnach eine Immunität gegen das neuartige Virus entwickelt. Außerdem hatten die Wissenschaftler festgestellt, dass die Sterblichkeitsrate bei Covid-19 wohl niedriger ist als bislang angenommen.

Für die frühe Veröffentlichung von Zwischenergebnissen wurde Streeck von einigen Kollegen kritisiert. Ärger gab es aber auch, weil seine Studie von PR-Experten in Szene gesetzt wurde: Die Agentur Storymachine – 2017 gegründet vom früheren „Bild“-Chef Kai Diekmann, Philipp Jessen, dem ehemaligen Leiter von „stern.de“, und dem Eventmanager Michael Mronz – hatte für die Untersuchung unter dem Label „Heinsberg-Protokoll“ in den sozialen Netzwerken getrommelt.

Streecks Studie wurde von vielen als Plädoyer für Lockerungen gedeutet – eine Sichtweise, die auch zur Agenda des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) passt, der für baldige weitere Erleichterungen plädiert. Maybrit Illner wollte von dem Wissenschaftler deshalb wissen, ob er sich von der Politik hat „instrumentalisieren“ lassen? „Nein, gar nicht“, entgegnete Streeck. Schließlich sei es bei seiner Studie ja so gewesen, dass er auf die Landesregierung zugegangen sei – und nicht umgekehrt.

Auch die frühe Veröffentlichung von Teilergebnissen verteidigte er. „Da bin ich entspannt“, sagte Streeck – und wies darauf hin, dass der weitere Verlauf der Studie gezeigt habe, dass die schon publizierten Ergebnisse richtig waren. Bald werde er einen abschließenden Bericht vorlegen.

Maybrit Illner sprach Streeck auch auf die viel kritisierte PR-Kampagne an – ließ dem Virologen aber durchgehen, dass er sich vor einer Antwort drückte. Widerspruch formulierte aber auch Mai Thi Nguyen-Kim. Ihr wollte nicht einleuchten, wie Streeck zu dem Schluss gekommen ist, dass die Einhaltung der Hygienemaßnahmen das effektivste Mittel gegen das Virus seien – was der Wissenschaftler dann auch nur halbherzig mit dem Hinweis, dass Hygiene die Viruslast grundsätzlich heruntersetze, erklärte. In die Tiefe ging der Disput nicht.

Der demütige Politiker

Der Politiker Cem Özdemir hatte im März öffentlich gemacht, dass er an Covid-19 erkrankt war. Er habe Glück gehabt, erzählte er nun in der Sendung, die Krankheit sei bei ihm sehr mild verlaufen. Und glücklicherweise habe er, anders als er zunächst vermutet hatte, auch niemanden in seiner Familie angesteckt.

Der Grünen-Politiker empfahl, aus der Krise „ein paar Lehren zu behalten“. Die Hilfsbereitschaft solle erhalten bleiben, die Wertschätzung für die Pflegeberufe dürfe „keine Sonntagsrede“ bleiben, die Digitalisierung gehöre vorangetrieben. Vor allem die Situation an den Schulen mache das deutlich: Während digitaler Unterricht in Staaten wie Finnland schon lange auf der Tagesordnung stehe, sei Deutschland noch „Entwicklungsland bei der Digitalisierung“.

Die Pandemie zeige aber auch, dass sich viele Erkenntnisse ständig verändern, dass Gewissheiten nichts Fixes sind. „Das sollte einen demütig machen mit umfassenden Aussagen zur Zukunft“, so Özdemir. Im Großen und Ganzen fiel seine Bilanz, wie Deutschland mit der Krise umgeht, positiv aus: „Die liberale Demokratie macht es besser als die autoritären Gesellschaften.“

Den Kurs der Kanzlerin stützt Özdemir. „Zu Recht“ würde sie zu Vorsicht und Zurückhaltung bei den Lockerungen mahnen. Er warnte auch vor Populisten, die nun behaupten, die Kanzlerin nutze die Situation, um Freiheiten einzuschränken. „Ein paar Irre“ würden das auch im Bundestag so äußern. Ohne Parteinamen zu nennen, war klar, dass der Grüne damit die AfD meint.

Der große Konsens

Zu den Erkenntnissen, die sich während der Krise gewandelt haben, gehört die Einschätzung, welchen Nutzen ein Mundschutz hat. Zunächst hieß es noch, die Masken könnten gegen das Virus überhaupt nichts ausrichten, nun wird es sogar Pflicht, sie in Geschäften oder in der U-Bahn zu tragen.

Auch Maybrit Illner wollte von ihren Gästen wissen, wie sie es mit der Maske handhaben – und plötzlich herrschte ein großer Konsens in der Sendung. Keiner der Gäste hatte etwas gegen den Mund-Nasen-Schutz einzuwenden. Herbert Diess kramte sofort sein Exemplar hervor und hielt es sich vor den Mund. Fünf Millionen Masken pro Woche werde man in den Werken von VW benötigen, wenn nun die Produktion der Autos wieder anlaufe, erzählte der Manager.

Und auch Cem Özdemir versprach, obwohl er als Geheilter nun eigentlich immun ist, die Maske zu tragen. „Ich finde es wichtig, das als Signal in die Gesellschaft zu geben.“

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