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Analyse
Stand: 22.12.2021 16:08 Uhr
Die mitteldeutschen Länder erleben eine neue Qualität von Protesten gegen die Corona-Maßnahmen: Zunehmend radikal und gewaltbereit. Vielerorts mischen Rechtsextreme mit.
Eigentlich dürfte es derzeit nicht so einfach sein, zu Hunderten gegen die Corona-Maßnahmen der Politik zu demonstrieren. In Sachsen-Anhalt müssen Versammlungen zwei Tage vorher angemeldet werden, ab mehr als zehn Teilnehmenden sind Auflagen, Beschränkungen oder gar ein Verbot möglich. In Sachsen sind sie nur ortsfest und mit maximal zehn Teilnehmenden gestattet, in Thüringen mit bis zu 35.
Soweit die aktuelle Rechtslage. In der Praxis versammeln sich dennoch Hunderte teils ungestört, um gegen 2G-Regelungen, weitere Kontaktbeschränkungen und eine allgemeine oder gruppenbezogene Impfpflicht zu protestieren. Die Polizei lässt sie oft, mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit, gewähren.
Wie im Rest Deutschlands flammen die Proteste nach einem eher ruhigen Sommer wieder auf und wirken hier nicht selten raumgreifend. Allein im Süden Sachsen-Anhalts zählten Behörden am Montag mehr als 4750 Teilnehmende – verteilt auf Kundgebungen in elf Städten. Begleitet wurden diese von lediglich 200 Beamten.
In Sachsen erklärte Landespolizeipräsident Horst Kretzschmar, man könne nicht zeitgleich überall im Einsatz sein und müsse „Prioritäten setzen“. Dafür greift seine Polizei nach wochenlanger Kritik mittlerweile härter ein, blockiert vereinzelt proaktiv zentrale Plätze. Aber eben nicht überall.
Rechtsextreme sind immer wieder mit dabei
Die Frage, wer da unter Slogans wie „Frieden, Freiheit, keine Diktatur“ und „Widerstand, Widerstand“ demonstriert, beschäftigt viele Stellen. Vor allem geht es dabei um die Rolle von Rechtsextremen, die immer wieder mit vor Ort sind.
Die Mobilen Beratungen gegen Rechtsextremismus in den drei Bundesländern haben ein sehr heterogenes Personenfeld auf den Straßen ausgemacht, das sich allerdings bereits mit einzelnen Sharepics und Nachrichten über Messenger-Dienste wie Telegram mobilisieren lasse.
In einer gemeinsamen Stellungnahme fordern die Beratungen, das Gewaltpotenzial ernstzunehmen. Zwar seien die Demonstrierenden nicht per se durch Rechtsextremismus vereint, wohl aber in großen Teilen durch eine „aggressive Haltung“ gegen die parlamentarische Demokratie. Wer die Maßnahmen zur Virus-Eindämmung hingegen verteidige, werde schnell als Feind („Systemling“) markiert.
„Protesterfahrungen“ von „Pegida“
Überrascht ist man von den Entwicklungen nicht: Wo die Radikalisierungsexpertin und Sozialpsychologin Pia Lamberty erklärt, dass mit den zunehmenden Protesten angesichts zunehmender Inzidenzen und Maßnahmenverschärfung zu rechnen war, verweisen die Beratungsstellen ergänzend auf die „Protesterfahrungen“ von „Pegida“, Chemnitz 2018 und den Anti-Asyl-Demos der Jahre 2015 und 2016. Auf diese greife die derzeitige Bewegung einmal mehr zurück – einschließlich „ostidentitärer Protesterzählungen“, die den Protest gegen die SED in der DDR instrumentalisieren.
Der Soziologen und Rechtsextremismusforscher Matthias Quent sagte der „Magdeburger Volksstimme“, neu an den Protesten sei vor allem ihre breite Streuung. Genau diese Streuung stellt die Behörden vor große Herausforderungen. Quent hatte schon im vergangenen Winter gewarnt, in einigen Kommunen gäre „eine gefährliche Stimmung“.
Rechtsextreme „Freie Sachsen“ und AfD
Eine zentrale Gruppe der Proteste ist die sächsische Kleinstpartei „Freie Sachsen“, gegründet im Februar dieses Jahres. In ihrem Telegram-Kanal bezeichnen sie den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer als „Despoten“, bayrische Bundespolizisten als „Besatzungsmilizen“. Ihr Kern besteht aus Personen, die seit Jahren extrem rechts bis rechtsextrem organisiert sind. Fast 120.000 Accounts lesen dabei mit. Die Partei hatte auch zu einem Fackelmarsch vor dem Privathaus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping mobilisiert.
Dennoch bleibt eine Abgrenzung der Demonstrierenden von Rechtsextremen wie den „Freien Sachsen“ überwiegend aus. Für Sachsen konstatiert der dortige Verfassungsschutzpräsident Dirk-Martin Christian gegenüber der „taz“: „Die Erosion der politischen Mitte hat bereits begonnen.“ Seine Behörde überwacht die „Freien Sachsen“ seit April dieses Jahres mit nachrichtendienstlichen Mitteln und spricht von einer „Mobilisierungsmaschine“.
Auch das Innenministerium in Sachsen-Anhalt beobachtet, wie neue, kleinere rechtsextreme Gruppen versuchen, die Proteste zu instrumentalisieren. Sie stammen aus dem Umfeld von Neonaziparteien wie NPD, Die Rechte und der III. Weg. In Halberstadt verteilte man am Montag Fackeln, um der dortigen Versammlung die eigene Ästhetik zu verleihen.
Unklar hingegen ist die Rolle der AfD. Sie bewirbt nahezu alle maßnahmenkritischen Versammlungen in sozialen Medien. Extrem rechte Abgeordnete wie Björn Höcke oder Hans-Thomas Tillschneider sprechen neben anderen Politikern der Partei regelmäßig auf Kundgebungen. Eine von der Magdeburger Landtagsfraktion selbst veranstaltete Kundgebung blieb mit weniger als 450 Teilnehmenden gerade jedoch deutlich unter den Teilnehmerzahlen anderer Versammlungen am selben Ort.
Wie groß ist das Potenzial der Proteste?
Populär geworden im Umgang mit den Protesten, ist der Vergleich der Zahl der Demonstrierenden mit denen der frisch beziehungsweise bereits Geimpften. Die Botschaft: Die Protestierenden sind eine Minderheit. Dieses Bildes bedienten sich auch Politikerinnen bis hin zu Sachsen-Anhalts Innenministerin Tamara Zieschang (CDU).
Fraglich ist, wie groß bislang das wirkliche Personenpotenzial der Proteste ist. In Sachsen-Anhalt zählten die Behörden am Montag insgesamt 18.000 Teilnehmende quer durchs Land, eine Woche zuvor waren es noch 14.000 gewesen. In Sachsen hingegen verzeichnet man mancherorts bereits einen Rückgang der Teilnehmerzahlen.
Beobachtende sorgen sich um eine weitere Radikalisierung der Bewegung. Die sei zuvor bereits durch die erlebt Machtlosigkeit der Maßnahmengegner, andererseits aber eben auch durch ihr Gewährenlassen befeuert worden. Schon jetzt ermittelt das LKA Sachsen gegen sechs Verdächtige aus der Szene. Sie sollen die Ermordung von Ministerpräsident Kretschmer geplant haben. Und der Verfassungsschutz warnt, die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht würde dann wie ein „Katalysator“ wirken.
In Sachsen und Thüringen ist auch fast ein Jahr nach Beginn der Impfkampagne mehr als ein Drittel der Bevölkerung nicht vollständig gegen Corona geimpft, in Sachsen-Anhalt gerade so.
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