Freude über die Lockerung der Ausgangssperre? In Frankreich haben viele eher Angst davor. Und anders als in anderen Ländern wächst in der Krise auch das Vertrauen in die politisch Verantwortlichen nicht. Warum ist das so?

Von Martin Bohne, ARD-Studio Paris

Kaum eine Regierung hat ihren Landsleuten so weitreichende Beschränkungen der Bewegungsfreiheit auferlegt wie die französische. Und erst am Montag treten erste zögerliche Lockerungen in Kraft. Aber die Franzosen nehmen ihre Entmündigung klaglos, ja mit großer Zustimmung hin. Ausgerechnet die Franzosen, die sonst so schnell so rebellisch sind und ihre Regierung in den Monaten zuvor mit Massenprotesten und Dauerstreiks arg in Bedrängnis brachten.

Viele haben Angst vor Ansteckung

Umfragen zeigen, wie verbreitet die Furcht vor dem Coronavirus in Frankreich ist. Während nur jeder vierte Deutsche angibt, eine große oder sehr große Angst vor einer Ansteckung zu haben, sind es in Frankreich über 60 Prozent. Und so blickt eine Mehrheit auch mit Sorge auf die bevorstehenden Lockerung der Ausgangsbeschränkungen.

„Diese Lockerung beunruhigt zwei Drittel aller Franzosen. Und zwar insbesondere wegen der Situation in den Schulen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln“, sagt der Meinungsforscher Bernard Sananès im Fernsehsender BFMTV. „80 bis 90 Prozent der von uns befragten Personen glauben nicht, dass man die geforderten Abstandsregeln dort einhalten kann.“ Und zwei Drittel der Franzosen sind der Meinung, dass die Regierung das Land auf die Lockerungen nur schlecht vorbereitet hat.

Geringes Vertrauen in politische Führung

Wie überhaupt die Franzosen auf die sie Regierenden gar nicht gut zu sprechen sind. Brice Teinturier, der Chef des Meinungsforschungsinstituts Ipsos, spricht von einer regelrechten französischen Besonderheit: „Die Franzosen haben ein sehr geringes Vertrauen in ihre politische Führung und wie sie mit der Coronakrise umgeht. Viel geringer als in Deutschland und geringer selbst als in den meisten anderen Ländern.“

In Frankreich sind nach einer Erhebung von Ipsos nur 38 Prozent mit dem Krisenmanagement der Regierung zufrieden, in Deutschland liegt der Wert doppelt so hoch, und selbst das von der Epidemie besonders stark getroffene Italien weist mit 55 Prozent eine höhere Zufriedenheitsrate auf als Frankreich.

Macrons schlechtes Image

In schweren Krisenzeiten wächst üblicherweise das Vertrauen in die politischen Führer. Präsident Emmanuel Macron konnte von diesem Effekt allerdings nur kurzzeitig profitieren. Mittlerweile ist seine Popularität beinahe wieder auf das Vorkrisenniveau abgesunken. In sechs europäischen Ländern hat Ipsos die Menschen ihre jeweiligen Führer bewerten lassen. Macron schnitt mit Abstand am schlechtesten ab, noch weit hinter dem italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte oder dem britischen Premier Boris Johnson.

Was sich nicht allein aus der Bilanz in der Coronakrise erklären lasse, meint Meinungsforscher Teinturier: „Seine Politik, die Reformen, die er in die Wege geleitet hat, werden von einem großen Teil der Bevölkerung abgelehnt. Und dann spielt auch seine Perönlichkeit eine Rolle. Eine Mehrheit wirft ihm Abgehobenheit, autoritäres Gehabe und Arroganz vor.“

Die pessimistischen Franzosen

Wie kommt es aber, dass die Franzosen ihrer politischen Führung so ablehnend gegenüberstehen? Das sei keineswegs erst mit Macron so, sagt Teinturier:

„Auch das ist eine französische Besonderheit. Die Franzosen sind sehr pessimistisch, viel pessimistischer als andere. Sowohl was die persönlichen Zukunftsaussichten betrifft als auch die des Landes. Das steckt sehr tief in uns drin, das Gefühl, dass Frankreich sich im Niedergang befindet – besonders im Spiegel einer als glorreich empfundenen Vergangenheit. Den Franzosen machen viele Dinge Angst. Politik und Gesellschaft sind stark polarisiert. Das alles gab es schon lange vor der Corona-Krise und das macht allen Regierungen das Leben schwer.“

Die Franzosen erwarten von ihrem Staat, dass er alles regelt. Gleichzeitig lehnen sie sich permanent gegen die Eliten des Staates auf. Etwas, was den Franzosen zum Beispiel viel Angst macht, sind die offenen Grenzen. In einer Umfrage haben sich gerade 55 Prozent dafür ausgesprochen, dass die Grenzen zu den europäischen Nachbarstaaten geschlossen bleiben – auch nach der Corona-Pandemie.

Über dieses Thema berichtete MDR Aktuell am 09. Mai 2020 um 11:12 Uhr.

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