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WELT: Herr Weil, wie sehr bedauern Sie es heute, im vergangenen Jahr nicht für den SPD-Vorsitz kandidiert zu haben?
Stephan Weil: Überhaupt nicht. Ich bin sehr mit mir im Reinen.
WELT: Auch mit Ihrer Partei?
Weil: Na ja, die Werte der SPD in den Umfragen und auch bei Wahlen sind, gelinde gesagt, unbefriedigend. Wir dürfen uns doch nicht damit abfinden, dass die SPD womöglich bei 15 Prozent plus/minus verharrt und nur noch die Nummer drei innerhalb des deutschen Parteienspektrums wäre. Auf Dauer würde das den Charakter der SPD grundlegend verändern.
WELT: Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit der beiden neuen Vorsitzenden?
Weil: Wenn man vergleicht, in welcher Situation die SPD vor einem Jahr war und in welcher sie sich derzeit befindet, dann kann man feststellen, dass der interne Umgang miteinander freundlicher geworden ist, auch friedlicher. Da Parteiführungen grundsätzlich alle schlechten Entwicklungen zugerechnet werden, darf man diese positive Entwicklung dann aber umgekehrt auch der neuen Parteiführung zurechnen. Das ändert aber leider nichts daran, dass sich die SPD weiter im Umfragetief befindet – und aus dem müssen wir uns alle gemeinsam herausarbeiten.
WELT: Die Ansage von Saskia Esken, dass es ein Corona-Konjunkturpaket nur ohne Kaufprämie für Autos mit konventionellem Antrieb geben wird, hat Sie aber schon verärgert, richtig?
Weil: Bei diesem Thema bin ich bekanntlich ganz anderer Auffassung als meine Vorsitzenden. Ich weiß, dass ich damit derzeit innerhalb der SPD zu einer Minderheit gehöre, und hoffe, dass wir auf diese Frage nicht im Laufe des Jahres noch einmal zurückkommen müssen. Im Hinblick auf die schlechte wirtschaftliche Entwicklung in der Autoindustrie, die wir nach der Sommerpause erleben könnten, ist das aus meiner Sicht leider nicht ausgeschlossen.
WELT: Wie viele Arbeitsplätze kann das Nein aus dem Willy-Brandt-Haus in der Autoindustrie und bei den Zulieferern kosten?
Weil: Vor allem viele Zulieferbetriebe – kleine, viele mittelständische Unternehmen, die schon vor Corona nicht in bester Verfassung waren – sind in einer sehr schwierigen Situation. Sie sind aber ein bedeutender Teil der deutschen Wirtschaft mit vielen Tausend Arbeitsplätzen.
Diese Unternehmen haben es nun obendrein seit einem Vierteljahr mit einer anhaltenden Nachfrageschwäche zu tun. Um diese Betriebe – und nicht in erster Linie die Autokonzerne – müssen wir uns sorgen, nicht nur in Niedersachsen, sondern im ganzen Land. Deswegen ist es extrem wichtig, dass die Autokonjunktur möglichst schnell wieder anspringt.
WELT: Verstehen Sie denn die Argumentation Ihrer Parteiführung, nach der das Ausloben einer Autokaufprämie der SPD im bevorstehenden Bundestagswahlkampf hätte schaden können – insbesondere bei den Wählergruppen, um die SPD und Grüne miteinander ringen?
Weil: Ich weiß, dass eine Autokaufprämie nicht besonders populär ist. Aber zu meinem politischen Verständnis gehört, dass sich Politik, und insbesondere die SPD, um Arbeitsplätze kümmern muss. Tut sie das sehr konsequent, wird sie auf Dauer gesehen auch nicht um Mehrheiten fürchten müssen. Wir haben schon jetzt in sehr vielen Industrieunternehmen Kurzarbeit. Das ist eine wichtige Beschäftigungsbrücke.
Nur: Wenn Unternehmen nach mehreren Monaten keine neuen Perspektiven sehen, dann macht irgendwann auch Kurzarbeit keinen Sinn mehr. Es gibt bereits zahlreiche Betriebe, die unübersehbare Signale senden. Die drei größten Zulieferer in der Automobilindustrie – ZF, Bosch, Continental – bauen massiv Arbeitsplätze ab. Der Vorstandsvorsitzende von Conti spricht von einem Herzstillstand. Das mag übertrieben klingen, aber eben leider nur ein wenig.
WELT: Die Senkung der Mehrwertsteuer hilft nicht?
Weil: Sie erzielt jedenfalls keine vergleichbare Wirkung. Zum einen ist sie kein gezielter Impuls, sondern ein allgemeiner, der auch Branchen erreicht, die das eigentlich gar nicht nötig hätten. Zum anderen fehlt eine ökologische Lenkungswirkung, im Gegenteil: Wer ein größeres und häufig dann auch schadstoffreicheres, Auto kauft, spart deutlich mehr als derjenige, der sich für ein kleineres, emissionsärmeres Fahrzeug entscheidet.
WELT: Niedersachsen droht zum großen Verliererland der Corona-Krise zu werden. Ihre mit Abstand größten Arbeitgeber – VW, Conti, TUI – haben erhebliche Probleme; das Gleiche gilt für Airbus, wo ebenfalls Tausende Niedersachsen beschäftigt sind. Wie wollen Sie eine drohende Massenarbeitslosigkeit in Ihrem Bundesland verhindern?
Weil: Das Problem kommt auf alle Bundesländer zu, in denen die Industrieproduktion eine große Rolle spielt. Dem Dienstleistungssektor geht es zwar auch in vielen Bereichen schlecht, aber in der Industrie drohen langfristige Schäden. Es wird dauern, bis beispielsweise die Luftfahrtindustrie wieder auf dem Vor-Corona-Niveau ist. Entsprechend energisch engagieren sich Bund und Länder. Wir in Niedersachsen haben gerade einen zweiten Nachtragshaushalt von über acht Milliarden Euro aufgestellt. Das wäre vor ein paar Monaten völlig unvorstellbar gewesen.
Klar ist aber auch: Arbeitslosigkeit werden wir nur vermeiden können, wenn die Unternehmen für sich wieder Perspektiven sehen. Vielleicht auch, wenn man für eine Zwischenzeit die Arbeit anders verteilt – wie es derzeit bei Continental mit dem Thema Vier-Tage-Woche diskutiert wird. Aber das ist Sache der Tarifpartner, eventuell ergänzt durch die Bundesagentur für Arbeit.
WELT: Wer bezahlt am Ende die Rechnung? Allein der Bund will im kommenden Jahr 218 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen.
Weil: Natürlich müssen wir uns die Frage stellen, ob solche Summen vertretbar sind, ob wir den kommenden Generationen damit nicht einen gigantischen Mühlstein um den Hals hängen. Meine Antwort lautet: Das ist mit Abstand die beste Option, auch für die jungen Leute. Wenn wir nicht investieren und die Dinge einfach laufen lassen, dann hätten unsere Kinder und Kindeskinder es noch bedeutend schwerer. Ich habe als Kämmerer der Stadt Hannover Ende der 90er-, Anfang der 2000er-Jahre richtige Durststrecken erlebt. Wir haben ein Sparprogramm nach dem nächsten aufgelegt.
WELT: Und?
Weil: Die Gesundung unserer Stadtkasse gründete sich dann trotzdem am Ende nicht auf meine heldenhaften Sparbemühungen, sondern auf der wirtschaftlichen Erholung. Dieselbe Erfahrung haben wir vor etwas mehr als zehn Jahren nach der Weltfinanzkrise gemacht. Je schneller wir den Aufschwung in Deutschland und in ganz Europa schaffen, je schneller die Wirtschaft überall wieder in Fahrt kommt, desto weniger Arbeitsplätze werden abgebaut und desto eher werden wir diese neuen Schulden tilgen können.
WELT: Was passiert eigentlich, wenn die jetzt ergriffenen Maßnahmen zur Abwendung eines Kollapses der deutschen Wirtschaft nicht ausreichen – kommt dann ein zweites und drittes Konjunkturpaket?
Weil: Gerade um es dazu gar nicht erst kommen zu lassen, setzen wir doch gerade alles daran, mit den jetzigen Maßnahmen Erfolg zu haben. Sich immer noch schlechtere Szenarien auszumalen bringt nun wirklich nichts. Im Übrigen würde ich es in einer solchen Situation mit Luther halten – Stichwort Apfelbäumchen.
WELT: Niedersachsen hat sich in der Vergangenheit gerne damit gebrüstet, besonders gute wirtschaftliche Beziehungen zu China zu pflegen. Es gehe in dieser Hinsicht nur „nach oben“. Hat sich Ihre Haltung durch das aggressive Auftreten Chinas geändert?
Weil: Wir sind nach wie vor für gute und intensive, aber niemals blauäugige Beziehungen. Die chinesische Regierung verfolgt die eigenen nationalen Interessen bekanntlich sehr konsequent. Gerade deswegen müssen wir ein maximales Interesse daran haben, dass Europa geschlossen gegenüber China auftritt. Wenn Deutschland allein versucht, auf Augenhöhe mit China über Spielregeln zu verhandeln, werden wir schnell an unsere Grenzen stoßen. Dasselbe gilt übrigens auch im Hinblick auf die Vereinigten Staaten.
WELT: VW betreibt in der Autonomieregion Xinjiang eine Fabrik. Halten Sie als Ministerpräsident und VW-Aufsichtsrat für tragbar, dass sich eine niedersächsische Firma mit chinesischen Partnern in einer Region engagiert, in der Minderheiten laut Menschenrechtlern in Umerziehungslager gesteckt werden?
Weil: Ich lese so manche Nachrichten aus dieser Region mit größter Sorge. Man muss allerdings wissen, dass die Investitionsentscheidung von VW zu einem Zeitpunkt getroffen worden ist, als die Lage dort noch wesentlich entspannter war als heute. Volkswagen hat die Situation in dem dortigen Werk in den letzten Monaten wiederholt kontrolliert. Es handelt sich um einen kleinen Standort, an dem sich Volkswagen um sehr faire Bedingungen gerade auch für Minderheiten bemüht.
WELT: Niedersachsen muss sich als Deutschlands „Agrarland Nummer eins“ auch auf tiefgreifende Veränderungen in der Landwirtschaft, insbesondere in der Fleischbranche einstellen. Was raten Sie den Betrieben?
Weil: Die Probleme in der Fleischwirtschaft sind nicht vom Himmel gefallen. Seit Jahren beschäftigt uns das Problem von schlecht bezahlten Werkverträgen und von schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen der oft ausländischen Beschäftigten. Jetzt wurde aufgrund der Corona-Krise das Scheinwerferlicht erneut auf die Branche gerichtet. Trotz zahlreicher Bemühungen sind dort miserable Arbeitsverhältnisse und Haltungsbedingungen für die Tiere nach wie vor an der Tagesordnung. Das Prinzip der Selbstverpflichtung hat nicht funktioniert, jetzt wird der Gesetzgeber die Regeln aufstellen.
Die Fleischwirtschaft muss zukünftig ganz normale Dauerarbeitsverhältnisse anbieten und die Unsitte der Kettenwerkverträge mit Subunternehmern hinter sich lassen. Die Unternehmen sind auch in der Verantwortung, für anständige und nicht krank machende Arbeitsbedingungen zu sorgen. Aber auch der Handel sollte sich keinen schlanken Fuß machen können. Bessere Bedingungen für die Beschäftigten und das Einhalten von Tierwohl verteuern die Produktion. Gerade die großen Supermarktketten spielen bislang bei der Preisgestaltung eine sehr fragwürdige Rolle.
WELT: Inwiefern?
Weil: Die Handelsketten liefern sich ein fatales Wettrennen um das billigste Fleisch auf einem internationalen Markt. Hinzu kommt, dass ich als Verbraucher oft nicht weiß, woher das Fleisch kommt, das ich im Supermarkt einkaufe oder im Restaurant esse. Gerade in der Gastronomie herrscht meistens null Komma null Transparenz. Wir brauchen ein verpflichtendes Tierwohllabel, das sektorenübergreifend ist. Wir müssen sicherstellen, dass Fleisch in besserer Qualität produziert wird und dass Landwirtschaft und Fleischindustrie dann dafür auch bessere Preise bekommen.
WELT: Soll die Politik die Preise bestimmen?
Weil: Unsere Landwirtschaftsministerin Barbara Otte-Kinast hat für eine verpflichtende Fleischabgabe plädiert, um höhere Kosten für höhere Standards bei der Produktion zu decken. Das finde ich richtig.
WELT: Die Kritik an höheren Fleischpreisen war immer, dass sich Geringverdiener das Fleisch dann vielleicht nicht mehr drei oder viel Mal in der Woche leisten können.
Weil: Den Preis müssen dann andere zahlen, Menschen und Tiere, und das ist sicher nicht fair. Die Frage ist eher, ob wir alle miteinander wirklich auf Dauer so viel Fleisch essen sollten, unabhängig vom Preis. Privat essen wir zu Hause inzwischen deutlich weniger Fleisch, und meine Lebensqualität hat nicht gelitten. Im Gegenteil.
WELT: Sie waren immer ein Fan der Currywurst. Essen Sie jetzt Tofuwurst?
Weil: Nein, das dann doch nicht. Es gibt Dinge, an denen lasse ich nicht rütteln, die Currywurst gehört dazu. Aber es ist eine Frage der Häufigkeit. Frühere Generationen sind mit einmal Fleisch pro Woche ausgekommen, dem Sonntagsbraten. Das ist kein Dogma, aber umgekehrt muss es auch nicht an jedem Tag Fleisch sein.
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