Tschechien war einst Corona-Musterschüler, doch nun steigt die Zahl der Infektionen rasant. Das Prager WHO-Büro übt Kritik, doch die Regierung mauert und will sogar weniger testen – offenbar aus taktischen Gründen vor den Regionalwahlen.

Von Peter Lange, ARD-Studio Prag

Die Deutsche Botschaft rät den Landsleuten schon einmal dezent, sich mit den Corona-Vorschriften der Bundesländer für Reisende aus  Risikogebieten vertraut zu machen. Das Prager Büro der Weltgesundheitsorganisation WHO bezeichnet die Lage in Tschechien als „besorgniserregend“.

Adam Vojtech, der tschechische Gesundheitsminister, schätzt die Lage etwas anders ein: „Obwohl die Situation schlimmer ist als vor einigen Wochen, ist sie unter Kontrolle. Es ist anspruchsvoll, vor allem in Prag, wo die Zahl der Infektionen sehr hoch ist. Aber wir tun alles, damit wir es schaffen.“

Hotspot Prag

563 Neuinfektionen registrierten die Behörden am Montag – zum sechsten mal lag die Zahl damit binnen weniger Tage über dem Rekordwert vom März. Mehr als 200 Menschen sind im Krankenhaus, gut 50 davon in kritischem Zustand. Der entscheidende Wert, der auch die deutschen Gesundheitsbehörden aufhorchen lässt: In Prag kommen auf 100.000 Bewohner 74 Infektionen.

Und das städtische Gesundheitsamt kommt an seine Grenzen. „Wir sind schon bei 10.000 Menschen, mit denen wir kommuniziert haben“, sagt Zdenke Jagrova, die Behördenleiterin. „Obwohl wir uns bemühen, jeden zu erreichen, können wir das nicht mehr schaffen.“

Regierung will weniger testen 

Für die Rückverfolgung von Kontaktpersonen hat das Gesundheitsamt bei so vielen Fällen nicht genügend Leute. Andere Gesundheitsämter sollen nun mithelfen. Der Gesundheitsminister verspricht 30 neue Stellen. Der Innenminister überlegt, Polizisten zu schicken. Eine andere Idee verfolgt Andrej Babis, der Ministerpräsident: „Das Gesundheitsamt überlegt, die Kontakte nur bei ernsthaften Fällen mit Symptomen zu prüfen. Vielleicht bedeutet das dann weniger Tests und auch weniger bestätigte Ansteckungen.“

WHO fordert mehr Tests

Das irritiert das Prager Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dessen Leiter plädiert nachdrücklich dafür, die Nachverfolgung und die Tests eher noch zu verstärken, was wiederum den Regierungschef in Rage bringt. Die WHO, die Schutzmasken nicht empfohlen habe und von der Pandemie nichts gewusst habe, solle besser schweigen, schrieb Babis auf Twitter.

Bei der Opposition macht sich der Eindruck breit, dass von einem koordinierten Vorgehen der Regierung nicht mehr die Rede sein kann. Olga Richterova von den Piraten spricht von Chaos. „Ich habe den Eindruck, das sind Schnellschüsse, die verdecken sollen, dass die Regierung den Sommer für die Vorbereitung verschlafen hat. Dabei musste damit gerechnet werden, dass eine zweite Welle kommt.“

Maskenpflicht und Auflagen für Nachtclubs

Was allerdings auch kommt, sind die Regionalwahlen im Oktober. Und manche Beobachter vermuten, dass die Regierung vermeiden will, die Wählerinnen und Wähler vor der Abstimmung mit einschneidenden Corona-Auflagen zu nerven. Immerhin: Mittlerweile herrscht wieder Maskenpflicht in Geschäften und Supermärkten. Und Nachtschwärmer müssen sich auf eine Nachtruhe einstellen: Clubs, Bars und Restaurants sind von Mitternacht bis sechs Uhr morgens geschlossen. Ob das alles ausreicht, um die Zahl der Neuinfektionen wieder zu senken, das ist in den nächsten Tagen die spannende Frage.

Über dieses Thema berichtete MDR aktuell am 08. September 2020 um 21:18 Uhr.

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