Die Devise der Grünen am Dienstag vor der Fraktionssitzung ist klar: keine Häme, keine Schadenfreude über die Krise der CDU und die Rückzugsankündigung von Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Dabei könnten sie ja profitieren von einer schwächelnden Union. Wenn die bürgerlichen Wähler eine neue Heimat suchen: Die Grünen würden sie ihnen bieten.

Doch zumindest nach außen üben sich die Abgeordneten in Zurückhaltung. Tatsächlich wirken sie eher ein wenig ratlos, über die Vorgänge in Thüringen sind viele nach wie vor erschüttert. „Wir sehen, wie dünn die zivilisatorische Kruste ist, und das ist erschreckend“, sagt die grüne Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther.

Den Ton hat Grünenchefin Annalena Baerbock tags zuvor vorgegeben, als sie sich weigerte, über die strategischen Vorteile der Krise für ihre Partei zu sprechen. Sie hielte es für absolut fatal, sagte Baerbock, wenn die einzelnen Parteien sich jetzt überlegten, ob sich daraus Millimeter-Startvorteile für sie bei der Bundestagswahl ergäben. Es soll nicht der Eindruck entstehen, die Grünen wollten aus dem Tabubruch von Erfurt politisch Kapital schlagen. Stattdessen: Sorge um Thüringen, um den Rest der Republik, um die Demokratie.

Angst vor einem Machtvakuum auf Bundesebene

„Mit diesem ungeordneten Rücktritt droht, dass wir nicht nur in Thüringen ein Machtvakuum haben, sondern eben auch auf Bundesebene“, sagt Baerbock. „Die Union muss jetzt für sich klären, ob sie unter diesen Bedingungen weiter eine stabile Regierung bilden kann.“ Kann sie es nicht, bräuchte es Neuwahlen, diese Botschaft schwingt implizit mit.

Kein Wort darüber, dass das Machtvakuum eigentlich ein Vorteil für die Grünen ist. Strategisch haben sie schon von dem Niedergang der SPD profitiert, nur logisch, dass sie ebenso von der drohenden Führungslosigkeit der CDU profitieren könnten. Zumal die Grünen unter Führung von Baerbock und ihrem Co-Vorsitzenden Robert Habeck seit zwei Jahren versuchen, liberale CDU-Wähler für sich zu gewinnen. Beide betonen, wie sie die Wirtschaft beim Klimaschutz mitdenken wollen. Sie versuchen vorsichtig, sich bei Themen der inneren Sicherheit zu profilieren, ohne die eigene Klientel zu verschrecken. Sogar über die grüne Gentechnik wollten die Vorsitzenden zwischenzeitlich diskutieren – für die Partei eigentlich ein Tabuthema.

Das Unglück der CDU könnte das Glück der Grünen sein. Käme es zu Neuwahlen, würden Grüne und CDU, Stand jetzt, um Platz eins buhlen. Doch darüber möchte man nicht reden. Baerbock betont lieber: Der Rückzug Kramp-Karrenbauers löse die Situation in Thüringen nicht. Aus Grünen-Kreisen heißt es: „In dieser Situation die Partei führungslos zu lassen, ist unverantwortlich und nutzt der AfD. Es hat was von einer Kapitänin, die im Sturm das Schiff verlässt.“

Tatsächlich ist die Krise der CDU für die Grünen kein reines Konjunkturprogramm. Der langsame Abgang der Vorsitzenden birgt auch Risiken, etwa wenn die Union nun nach rechts rücken sollte. Die Zusammenarbeit mit einer CDU unter der Führung von Friedrich Merz wäre im Vergleich zum Status quo ungleich schwieriger.

Die Lieblingschristdemokratin der Grünen ist ohnehin Kanzlerin Angela Merkel. Schon die Wahl Kramp-Karrenbauers war aus grüner Sicht ein Rückschritt auf dem Weg zu schwarz-grüner Zusammenarbeit. Als Kramp-Karrenbauer sich am politischen Aschermittwoch im vergangenen Jahr über Toiletten für das dritte Geschlecht mokierte, nutzte Habeck die Gelegenheit, um in einem Blogbeitrag wissen zu lassen, dass es der damals noch neuen CDU-Vorsitzenden an Stil und Größe mangele und Merkel den Grünen bereits fehle.

Trotzdem: Die Grünen wollen die Richtungsentscheidung, vor der die CDU steht, nicht zur Maßgabe für die Wahl ihres Koalitionspartners machen. „Ausschließeritis ist derzeit der unklügste und AfD-freundlichste Lösungsvorschlag“, twitterte der Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz. Europaexpertin Franziska Brantner erklärte: „Jetzt geht es darum, dass wir gemeinsam mit konservativen Kräften die demokratischen Brandmauern hochziehen, um unsere Freiheit und Vielfalt zu schützen.“

Grüne wollen nichts ausschließen

Bis zur Wahl Kemmerichs in Thüringen schien klar, dass die CDU auch auf Landesebene nicht mit der AfD zusammenarbeitet. Diese Gewissheit ist nun dahin. Ob die Grünen ausschließen würden, mit der CDU zu koalieren, sollte die Union auf Landesebene mit den Rechtsaußen kooperieren? „Wir haben gegenüber der Union, wir haben gegenüber allen anderen Parteien sehr, sehr deutlich gemacht: Mit Rechtsextremen darf es keine Zusammenarbeit geben“, sagt Baerbock. Sie fügt hinzu: „Aber jetzt einen Diskurs zu führen, wo sich demokratische Parteien anfangen zu sagen, was wäre, wenn hier und da und überhaupt, das nutzt nur der AfD. Und dieses Spiel mache ich nicht mit.“

Eine klare Ansage klingt anders. Stattdessen geben die Grünen sich staatstragend, als die eigentlichen Wahrer der Demokratie.

Doch sie wissen: Ihre Wähler erwarten von ihnen, nichts mit einer Union anzufangen, die sich irgendwo anders mit der AfD einlässt. Ob sie diese Erwartungen erfüllen kann, diese Frage könnte sich bald schon stellen, wenn sich die Thüringer Verhältnisse wiederholten – zum Beispiel bei den Landtagswahlen 2021 in Sachsen-Anhalt oder in Mecklenburg-Vorpommern.

Was ist dann mit der Bundesebene? Dort haben die Grünen derzeit laut Umfragen nur mit der Union eine Mehrheit. Selbst wenn es rechnerisch für Rot-Rot-Grün reichen würde, werden die Grünen sich ihrer Alternativen nicht berauben lassen. Allein deswegen werden sie eine Koalition mit der CDU – unter welchen Umständen auch immer – derzeit nicht ausschließen.

Für den Moment werden strategische Fragen ausgeblendet. Die Grünen können sich das erlauben – weil die Konkurrenz so schwach ist: Die CDU ist in der Krise, die SPD sowieso. Die Linken wollen im Sommer eine neue Parteispitze wählen, noch immer wirkt der Streit zwischen Parteichefin Katja Kipping und der Ex-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht nach. Die FDP ist durch die Vorgänge in Thüringen schwer angeschlagen.

Die Grünen wirken da wie der Hort der Harmonie. Ein Zustand, den die Partei so lange wie möglich beibehalten will.

Icon: Der Spiegel

Artikelquelle

Artikel in der gleichen Kategorie: