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Helfen: Jemandem durch tatkräftiges Eingreifen, durch Handreichungen oder körperliche Hilfestellung, durch irgendwelche Mittel oder den Einsatz seiner Persönlichkeit ermöglichen, [schneller und leichter] ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Das Video
Losgegangen ist alles mit einem Seufzen. Andreas Gammel saß auf dem Sofa seines Hauses in Mössingen, als die Geschichte begann, von der er manchmal nicht mehr weiß, ob er einen Jungen gerettet oder alles nur schlimmer gemacht hat.
Es war ein Abend im April 2017, und das Facebook-Video, das Gammel auf dem Laptop angeklickt hatte, war gerade einmal eine Minute und 15 Sekunden lang. Es zeigte einen kleinen Jungen, der irgendwo im Irak in einem grauen, roh verputzten Raum neben einer fleckigen Matratze stand. Das Kind trug nichts als eine Unterhose.
Man musste kein Arzt wie Andreas Gammel sein, um zu sehen, dass mit dem Knirps etwas nicht stimmte: Der Rücken war verbogen, die Beine krumm und steif, und der vernarbte Bauch wölbte sich so stark, als hätte jemand einen Luftballon darin aufgeblasen. Stumm schaute das Kind in die Kamera. „Mensch, Claudia, schau dir mal diesen armen Purzel an“, sagte Gammel zu seiner Frau. Dann las er den Text, den eine Freundin unter das gepostete Video geschrieben hatte: „Das ist der kleine Khairi, der von einem IS-Monster über anderthalb Jahre so grausam gefoltert wurde, dass er heute kaum noch laufen kann. Der Mann brach ihm beide Arme und Beine, biss ihm das Ohr ab und verstümmelte seinen Penis. Spenden Sie, um Khairi zu helfen.“
Eigentlich ist Andreas Gammel kein Mann, dem es schnell die Sprache verschlägt. Gammel ist 55, ein fröhlicher Doktor mit Brille und schmalen Schultern, der ein eifriges Schwäbisch spricht. Im Ort sagen sie über Gammel, dass er nicht so gut still sitzen kann, weil Gammel nicht nur für die CDU im Gemeinderat sitzt, sondern auch in der Kirchengemeinde mitmischt und überhaupt überall, wo man in Mössingen nur mitmischen kann. Zu seiner Praxis, die am Rand des Städtchens liegt, fährt Gammel jeden Morgen mit einem Elektrofahrrad, vorbei an geputzten Fenstern und Vorgärten, in denen kaum Unkraut sprießt.
Doch an diesem Abend, als er das Video mit dem kleinen Khairi Khuder sah, geriet die aufgeräumte Welt von Andreas Gammel in Unordnung. Nicht, dass Gammel noch nie Leid gesehen hatte: Er war gerade aus der Türkei zurück, hatte dort in einem Flüchtlingslager Wunden versorgt und Medikamente verteilt. Aber so was! Ein gefoltertes Kind? In Lebensgefahr?
Es gibt Menschen, die lange brauchen, um sich zu großen Entscheidungen durchzuringen. Die nächtelang abwägen. Gammel gehört nicht zu diesen Menschen. Als er sich an diesem Abend zu seiner Frau ins Bett legte, so erzählt er es heute, wusste er, was er tun würde. Andreas Gammel schlief gut in jener Nacht.
Jaleela, Khairis Mutter: Manchmal habe ich diesen Traum. Er kommt immer wieder. Ich träume, dass ich und der Libyer uns gegenüberstehen. Wir beide halten Khairi an einem Arm und ziehen, so doll wir können. Ich sehe, dass Khairi Schmerzen hat, obwohl er nicht schreit. Aber ich kann nicht loslassen. Meine Finger wollen sich einfach nicht lösen.
Ein Mann und ein Kind
Zwei Monate nachdem Andreas Gammel das Video mit dem kleinen Khairi gesehen hat, steht er an einem Donnerstag im Juni unter einem Olivenbaum und blickt auf einen sandsteinfarbenen Tempel, der vor ihm aus den felsigen Hügeln ragt. Gammel ist zusammen mit seiner Tochter, einer Krankenschwester, und einem Kinderrollstuhl in den Norden des Irak gereist. Dorthin, wo zu dieser Zeit immer noch der IS kämpft. Sein Plan, in zwei Worten zusammengefasst: Khairi retten. Der stern begleitet ihn und ist von nun an bei allen wichtigen Ereignissen dabei.
Gammel trägt an diesem Tag ein fein gebügeltes Hemd und das Gesicht eines Mannes, der an alles gedacht hat. In den vergangenen Monaten hat Gammel Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Er hat nächtelang E-Mails geschrieben und mit Hunderten Menschen telefoniert. „Es war schwer, aber der Horror hat uns bei dieser Sache viele Türen geöffnet“, sagt er. Gammel ist gerade dabei, wegen der Hitze seine Hose hochzukrempeln, als das Auto mit der Familie vorfährt. Heraus steigen die Khuders: Mutter, Vater, vier Kinder. „Hello, I’m Andreas“, sagt Gammel in schwäbischem Englisch und verbeugt sich wie ein eifriger Portier. Vor ihm, an der Hand seiner Mutter, steht ein kleiner Knirps. Er hat pechschwarzes Haar, eine knubbelige Nase und eine Wasserpistole im Anschlag. An seinem Kopf, den er aufgeregt hin und her wirft, stehen zwei Segelohren hervor. Eines davon ist so aufgequollen wie bei einem Boxer nach einer langen Karriere. „Und du musst der kleine Khairi sein“, sagt Gammel und beugt sich zu Khairi herunter.
Gammel kann gut mit Kindern. Ihm macht es nichts aus, auf Knien herumzurutschen oder Tiergeräusche zu machen. Doch als er versucht, Khairi sanft in den Arm zu nehmen, faucht der Kleine wie eine Echse. Er windet sich aus Gammels Griff und schießt ihm eine Ladung Wasser ins Gesicht.
„Mensch, du bist mir ja einer“, lacht Gammel und sieht Khairi nach, wie er davonwankt, krakeelend und schwankend, die Wasserpistole erhoben wie ein kleiner Actionheld. Bloß dass Khairi mit seinen krummen Beinen nicht weit kommt. Nach ein paar Metern haut es ihn auf den heißen Steinboden. Doch Khairi, der Junge, für den Gammel um die halbe Welt geflogen ist, weint nicht. Khairi macht keinen Mucks.
Gammel wird später sagen, dass ihm in diesem Moment zwei Gedanken gekommen seien. Erstens: Das mit dem Rollstuhl war Quatsch. Zweitens: Der ist ja völlig abgestumpft.
Jaleela: Von dem Tag, als Daesh kam, weiß ich noch, dass meine Füße ganz aufgescheuert waren. Wir waren stundenlang marschiert, um uns in einem Dorf in den Bergen zu verstecken. Als die Kämpfer ins Dorf fuhren, sperrten sie die Frauen in eine Halle. Die Männer brachte man fort. Ich erinnere mich noch, wie heiß es in der Halle war. Es roch nach Staub und Schweiß, und alle weinten. Irgendwann musste Khairi auf Toilette, und die Wachen ließen mich in den Innenhof. Dort hörte ich die Schüsse aus den Bergen. Sie kamen von dort, wohin man die Männer gebracht hatte. Es waren keine Schüsse in die Luft. Sie prallten in etwas. Ich hielt Khairi die Ohren zu. Ich wollte, dass er nichts mitbekommt von diesem Krieg.
Der Aufbruch
Am Abend, über Kurdistan färbt sich der Himmel orangefarben, steht der Abschied bevor. Ein paar Nachbarn sind gekommen und einige aus dem Dorf. Gammel hat sich in eine Ecke des staubigen Innenhofs verzogen und sieht dabei zu, wie Jaleela, Khairis Mutter, drei schwere Koffer aus dem Haus in die Abendsonne schleppt. Jaleela ist 27, eine schöne, schüchterne Frau, die kein Englisch spricht. Ihre Flucht aus der Gefangenschaft liegt erst drei Monate zurück. Eben, als sie Khairis Pulli in den Koffer stopfte, sagte sie: „Ich will nicht nach Deutschland. Aber ich tue es für Khairi. Ich bin es ihm schuldig.“
Jaleela und ihre Tochter Marya, 13, werden Khairi nach Deutschland begleiten. Gammel hat das organisiert. Wie er überhaupt alles organisiert hat. In Nürnberg hat er ein Krankenhaus gefunden, das Khairi kostenlos operieren wird, und den Oberbürgermeister überredet, eine Wohnung zur Verfügung zu stellen. Gammel hat gekämpft, geworben, telefoniert und verhandelt. Und er hat den stern angerufen, weil er auf Spenden hofft. Jetzt tritt er nervös von einem Bein aufs andere, während Jaleela abwechselnd Verwandte an sich drückt oder Tränen aus ihrem Gesicht wischt.
Hazm, Khairis Vater, lehnt ein paar Meter weiter an einer Wand und raucht düster eine Zigarette. Gammel wirft ihm einen misstrauischen Blick zu. Eigentlich ist er kein Mann, der andere schnell verurteilt, doch die Liste mit Dingen, die gegen Hazm sprechen, ist ziemlich lang. Zum einen riecht Hazm stark nach Alkohol, zum anderen hat Gammel beobachtet, dass er grob mit den Kindern und mit Jaleela umgeht. Hazm war nicht in Gefangenschaft. Als keiner hinhört, flüstert Gammel seiner Tochter ins Ohr: „Gut, dass sie diesen Typen erst mal los ist.“
Denn Hazm wird mit Khairis Brüdern zunächst im Irak bleiben. Khairis Brüder sind sechs und acht und waren ebenfalls in Gefangenschaft. Sie drücken sich in schmutzigen Fußballtrikots am Tor herum. Um den Hals des Älteren, Aysar, zieht sich eine feine, rote Narbe. Khairi hat ihn vor ein paar Tagen mit einem Messer angegriffen. „Khairi hat was mit dem Kopf“, sagt Aysar und verdreht die Augen, als wäre er verrückt. Dann kommen Mutterarme und pressen ihn an sich. Jaleelas Trauerschreie sind so laut, dass in der Nachbarschaft ein paar Hunde anfangen zu bellen.
Es ist unklar, wann sich die Khuders wiedersehen. Werden Hazm und die Jungs nachkommen? Wie lange wird Khairis Behandlung dauern? Gibt es eine Zukunft für die Familie in Deutschland?
Die Fragen begleiten Gammel den ganzen Tag. Als Arzt in einer Kleinstadt ist es Gammel gewohnt, die Antworten zu haben. Jetzt wiederholt er immer denselben Satz: „Ich verspreche, dass ich alles versuchen werde.“ Meistens lächelt er danach. Gammel trägt dieses Lächeln wie einen Arztkoffer. Es soll sagen: keine Sorge. Es wird alles gut.
Jaleela: Meine größte Angst war es immer, dass ich von meinen Kindern getrennt werde. Khairi war ja erst eineinhalb Jahre alt, Anas und Aysar drei und fünf und Marya neun. Irgendwann wurden wir alle an einen Libyer verkauft, der uns in ein zementfarbiges Haus in der Nähe von Raqqa brachte. Der Libyer war riesig und spindeldürr. Er hatte lange Haare und so wahnsinnig dunkle Augenringe. Allerdings sprach er kaum. Nachts schlief er abgewandt von mir und meinen Kindern. Ich dachte, es sei Schüchternheit, weil er erst 19 war. Sein Bart war noch so flusig. Die anderen Kämpfer lachten manchmal über ihn, weil er den Kindern Schokolade mitbrachte und mich nicht anrührte. Wir haben Glück, dachte ich. Das ist kein böser Mann.
Die Rolltreppe
Der Flug der Khuders nach Deutschland geht über Jordanien nach Frankfurt. Auf ihm geschehen zwei Dinge, die Gammel später als zwei der „wichtigsten Knackpunkte“ in seiner Beziehung zu Khairi bezeichnen wird. Knackpunkt Nummer eins ereignet sich auf dem Rollfeld von Arbil. Eine Frau von der Security besteht darauf, dass Gammel samt Rollstuhl und Khairi in einem Extra-Wagen zur Maschine gefahren werden muss.
Gammel, der in den letzten 24 Stunden jede freie Minute versucht hat, Khairis Aufmerksamkeit zu erobern, der Wasserbomben baute und in Socken fröhlich durchs Haus der Khuders hüpfte, ist das erste Mal mit Khairi allein.
Als die Türen des Autos zufallen und seine Mutter verschwindet, zuckt Khairis Blick wie eine Flipperkugel durchs Innere des Wagens. Sein Körper bebt. Erst beginnt er zu schreien, dann wild um sich zu schlagen. Gammel versucht verzweifelt, ihn zu beruhigen. Am Ende muss er Khairis Oberarme festhalten, damit er seinen Kopf nicht gegen die Fensterscheiben schlägt. Gammel sagt: „Ich dachte in diesem Moment: Das gibt es doch nicht. Jetzt traumatisier ich den kleinen Kerl schon wieder. Der spürt nur, dass ich stärker bin, und muss sich wieder seinem Schicksal beugen.“
Gott sei Dank passiert auf der Reise aber ja noch etwas. Knackpunkt Nummer zwei, bei einem Zwischenstopp in Jordanien. Gammel steht zusammen mit den Khuders auf einer riesigen Rolltreppe, als ihm die Idee kommt, Khairi auf den schwarzen Handlauf zu heben. Gammel hat das früher auch immer mit seinen Kindern gemacht. Seine Hände fassen unter Khairis Achseln.
Es ist nicht leicht zu beschreiben, was dann geschieht, weil sich große Veränderungen manchmal in kleinen Momenten verstecken. Doch als Khairi – gehalten von Gammel – nach oben in die gläserne Abflughalle gleitet, wird er plötzlich ganz ruhig. Beseelt, als sehe er Gammel zum ersten Mal, schaut er ihn an. „Hui, macht das nicht Spaß“, lacht Gammel und knufft Khairi sanft in den Bauch. Khairi gluckst. Es klingt wie ein Schluckauf. Etwas, das von tief unten kommt.
In den nächsten 30 Minuten fahren Khairi und Gammel Rolltreppe. Immer wieder, hoch und runter. Nach seiner Mutter ruft Khairi kein einziges Mal. Gammel sagt: „Ich glaube, er hat in diesem Moment gespürt, dass ich keine Gefahr bin. Dass ich nur sein Freund sein will.“
Jaleela: Eines Tages, es war nach zwei Monaten, stand der Libyer plötzlich nachts vor meinem Bett. Ohne ein Wort zu sagen, packte er mich und riss mich an den Haaren aus dem Zimmer. Ich wollte nicht schreien, die Kinder schliefen ja neben mir. Aber ich kratzte und biss und zappelte. Der Libyer nahm meine Arme und fesselte mich mit Handschellen an das Bettgeländer oben in seinem Zimmer. Anschließend begann er, auf mich einzuprügeln. Erst mit Fäusten. Dann mit einer Stange. Selbst als er mich vergewaltigte, schlug er noch auf mich ein. Warum bist du plötzlich so, schrie ich. So war ich immer, sagte er. Du hast mich nur nicht erkannt.
„Welcome home“
Die Unterkunft in Nürnberg, vor der Gammel am nächsten Tag den Mietwagen parkt, ist ein gelblicher 60er-Jahre-Bau im Stadtzentrum von Nürnberg. Vor dem Eingang hat ein Empfangskomitee Aufstellung genommen. Eine Frau von der Stadt. Ein lokales Helferteam. Eine Sozialarbeiterin von der Caritas. Und die muslimische Ärztin mit Kopftuch, die Gammel extra organisiert hat. Gammel schüttelt Hände und wird zusammen mit Jaleela und den Kindern ins Innere des Flüchtlingsheims geführt, wo es nach Fisch, Staub und Frittiertem riecht. Im dritten Stock stößt die Frau vom Jugendamt eine Tür auf. „Welcome home“, sagt sie und breitet die Arme aus. Das Zimmer ist ein schmuckloser Raum mit fleckigem Teppich, einem Fernseher und zwei Hochbetten. Gammel muss kurz schlucken.
Als er sich später verabschiedet, weil er am nächsten Tag wieder in der Praxis sein muss, stehen Jaleela und Marya in einer Traube aus Fremden und sehen etwas verloren aus. In einer Ecke schlägt Khairi mit einem Kuscheltier auf das Bett ein.
„Mann, jetzt habe ich ein ganz schlechtes Gefühl“, sagt Gammel kurz darauf im Auto zu seiner Tochter Teresa. Das erste Mal in drei Tagen sieht er müde aus. „Die wirkten so einsam, schlimmer als im Irak.“ – „Ach, Papa, das wird schon werden“, sagt Teresa und tätschelt Gammels Arm.
Jaleela: Nachdem der Libyer mich das erste Mal angefasst hatte, war alles anders. Ab sofort durfte ich Khairi nicht mehr stillen. Du kümmerst dich nur um ihn, du musst dich um mich kümmern, sagte er. Aber Khairi war doch noch so klein, und irgendetwas musste er ja essen. Als der Libyer herausfand, dass ich Khairi heimlich gefüttert hatte, schleifte er ihn am Fußgelenk über den rauen Beton. Er zog ihm das T-Shirt aus und begann auf seinen Bauch einzuboxen. Mit aller Kraft. Bis Khairi sich kaum noch rührte. Ich versuchte, ihn abzuhalten, zerrte an ihm, dann ging er auf mich los. Khairi wollte danach nie wieder die Brust.
Ein schwieriges Projekt
Frakturen der Rippen. Frakturen der Arme. Frakturen der Ober- und Unterschenkel. Frakturen des Beckens. Frakturen des Schlüsselbeins. Frakturen des Nasenbeins. Frakturen, Frakturen, Frakturen.
Es ist eine Woche nach der Ankunft der Khuders, als der Anruf kommt. Der Chefarzt der Kinderklinik ist am Apparat. So etwas habe er noch nicht gesehen, sagt der Mediziner, der Khairi in der letzten Woche untersucht hat. Wie zersplittert sei dieses Kind gewesen. Schlimmer als nach jedem Motorradunfall. Wären die Verletzungen auf einmal aufgetreten, so der Arzt, der Junge hätte es nie und nimmer überleben können. Doch Khairis Fluch sei in diesem Fall Khairis Segen: sein Alter. Wegen seines Wachstums könnten Operationen erst mal noch warten. Es gehe im ersten Schritt um Physiotherapie und Einlagen für die Schuhe.
Gammel will seinen Ohren nicht trauen. Natürlich freut er sich, aber da ist auch ein anderes Gefühl: Irritation. Einlagen für die Schuhe? Dafür der ganze Aufwand? Dafür hat er wirklich die Familie auseinanderreißen müssen?
Viel Zeit zu zweifeln hat Gammel allerdings nicht. Denn schon bald poppen erste empörte E-Mails aus Nürnberg in seinem Posteingang auf. Da ist die Frau von der Caritas, die sich darüber beschwert, dass Jaleela, die Jesidin, so passiv sei und sich nicht von der muslimischen Ärztin untersuchen lassen will. Da ist der Mann von der Ausländerbehörde, bei dem ständig neue Bekannte von Jaleela aufkreuzen und unverschämte Forderungen stellen. Termine platzen, Sprachkurse werden nicht besucht, es herrscht Chaos.
Gammel beschwichtigt, moderiert, schreibt E-Mails, wochenlang. Wieder sitzt er bis nachts am Laptop. Mensch, Andreas, komm ins Bett, sagt seine Frau.
Eigentlich hatte Gammel ihr versprochen, sich nach und nach aus der Sache mit Khairi herauszuziehen. Doch auch seine Frau weiß natürlich, dass er nicht besonders gut darin ist, sich herauszuhalten. Gammel liebt es einfach zu sehr zu helfen. „Ich konnte die ja nicht einfach in Deutschland abwerfen und dann sagen: So, nun seht zu, wir ihr klarkommt“, sagt er. „So ein Mensch bin ich nicht.“
Jaleela: Tagsüber war der Libyer kämpfen. Nachts kam er nach Hause. Er holte sich Khairi, selbst wenn der schlief. Khairi zu foltern, machte ihm Spaß. Die anderen Kinder rührte er nicht an. Manchmal rief er Khairi zu sich und sagte, dass er ihm einen Kuss geben wolle. Wenn Khairi dann seine Wange hinhielt, biss er hinein, bis das Blut kam. Er lachte nur. Dabei riss er den Mund immer so weit auf. Nach einigen Monaten bestand Khairis Körper nur noch aus Wunden und schwarzen Flecken. Alles war geschwollen. Ich lief zu den anderen Kämpfern, zeigte ihnen Khairis Wunden. Er schlägt ihn zu Tode, bitte, tut etwas, bettelte ich. Doch nichts passierte.
Schönes Spiel
Als Gammel im September, seit der Ankunft der Khuders sind knapp zwei Monate vergangen, das nächste Mal nach Nürnberg fährt, warten eine gute und eine schlechte Nachricht auf ihn. Die schlechte zeigt sich sofort, als Jaleela die Tür zur Unterkunft aufschließt und Gammel in eine Wohnung blickt, in der es aussieht, als wäre ein Koffer explodiert. Überall liegen Klamotten und Essen herum, der Fernseher läuft auf voller Lautstärke, und an den Wänden hängt kein einziges Bild.
Stiftung Stern
Wenn Sie helfen wollen:
Gammel lässt sich nichts anmerken. Doch irgendwie stört es ihn doch, dass es in der Wohnung so wenig heimisch aussieht. Wollen die Khuders denn gar nicht in Deutschland ankommen? Bei seinem Besuch sitzt Khairi auf dem Bett wie ein kleiner Imperator und spielt auf dem Handy ein Autorennspiel. Marya und Jaleela hocken stumm daneben. Gedankenverloren schauen sie aus dem Fenster.
„Geh doch mal raus, mach was Schönes mit den Kindern“, sagt Gammel freundlich zu Jaleela. Nach zwei Monaten in Deutschland spricht sie noch keinen Satz Deutsch. „Danke“ und „Hallo“ sind die einzigen Wörter, die sie kann. Die meiste Zeit lächelt sie nur scheu. Wie auch jetzt. Doch das Lächeln stirbt nach zwei Sekunden.
Gammel ist jedoch jemand, der gut darin ist, sich auf die guten Nachrichten zu konzentrieren. Und die heißt bei seinem Besuch Khairi.
Nur ein paar Minuten dauert es, dann liegt das Handy in der Ecke, und Khairi turnt auf Gammel herum. Zusammen toben sie durch das Spielzimmer im Krankenhaus, schauen den Hunden im Park nach und schießen mit Khairis gelbem Stoffball.
Gammel ist begeistert von Khairis Fortschritten. Die Physiotherapie scheint zu wirken. Das steife Bein, das Khairi noch im Irak hinter sich herzog wie ein Kriegsveteran, stakst jetzt viel zielsicherer über den braunen Teppich. Khairi schreit weniger, lacht mehr. Wenn Gammel die Arme öffnet, stürmt er hinein. Immer wieder greift Khairi nach Gammels Brillengestell. Nicht die Brille, sagt Gammel dann und lacht. Khairi grinst. Als er sich später an diesem Tag verabschiedet, lacht Khairi noch immer. „Mein Spiel ist schön“, ruft er auf Kurdisch. „Mein Spiel ist schön.“
Jaleela: Es war, als wollte der Libyer wissen, wie viel Khairis Körper aushält. Manchmal drückte er ihm mit den Fingern so doll in die Augen, dass Khairi tagelang nichts sehen konnte, oder schnitt ihm mit Nägeln die Mundwinkel auf. Einmal schmiss er ihn aus dem fahrenden Auto. Wenn ich versuchte, ihn zu schützen, prügelte er mich fast zu Tode. Am schlimmsten waren die Momente, wenn Khairi bewusstlos auf dem Boden lag, weil der Libyer ihn gewürgt oder an den Fußgelenken gegen die Wand geschleudert hatte. Dann musste ich meine Finger auf seinen Hals legen, um zu schauen, ob er noch lebte. Davor zögerte ich immer. Ich wusste nicht, was ich hoffen sollte.
Totes Herz
In den Tagen nach seinem Besuch ist Gammel guter Dinge. Die Fortschritte „des putzigen kleinen Kerlchens“, wie er Khairi nennt, machen ihm Mut. Dem Jungen geht es besser. Und darum ging es ja schließlich!
Drei Tage später allerdings erreicht Gammel eine Nachricht, die sogar seine Zuversicht ins Wanken bringt. Die Übersetzerin der Khuders meldet sich: Hazm, Khairis Vater im Irak – ein Herzinfarkt. Er habe es nicht geschafft.
Gammel sagt heute, dass er in diesem Moment wusste, dass ihm jetzt alles um die Ohren fliegt. „Das war der Super-Gau. Vater tot. Jungs im Irak allein. Ich dachte nur: Was habe ich für einen Mist gemacht. Jetzt muss ich handeln.“
Gammel, der gerade seine Frau zum Flughafen gebracht hat, nimmt auf der Autobahn die nächste Ausfahrt und macht sich auf den Weg nach Nürnberg. Tausend Sachen schießen ihm durch den Kopf. Was wird aus den Jungs im Irak? Wird er sie nach Deutschland holen können? Und vor allem: Was wird Jaleela sagen? Der Mann der Antworten hat selbst nur noch Fragen.
Über das Telefon kann Gammel niemanden erreichen. Jaleelas Handy ist ausgeschaltet. Stattdessen meldet sich an einer Raststätte die Frau von der Caritas, die sich darüber echauffiert, dass die Khuders aus der Unterkunft verschwunden seien. Ohne ein Wort. Eine Frechheit sei das. Gammel, der die Fahrt abbricht, erklärt die Situation, wirbt um Verständnis. Am liebsten möchte er schreien.
Jaleela: Eines Tages behauptete der Libyer, er würde Khairi zu einem Krankenhaus bringen. Die Brüche heilten ja kaum noch. Ich weiß noch, wie ich die beiden aus dem Fenster davonlaufen sah. Ich hatte schrecklich Angst. Als Khairi nach Einbruch der Dunkelheit nicht zurück war, nahm ich eine Taschenlampe und suchte nach ihm. Ich irrte durch die Ruinen. Die Stadt bestand nur aus Schutt. Ich rief nach Khairi. Immer wieder. Irgendwann hörte ich seine Stimme aus einem kaputten Haus. Mama, rief er. Mama. Ich fand ihn in einem Kasten unter einer Spüle. Nachdem der Libyer ihn gequält hatte, hatte er ihn dort reingesteckt und war zum Kämpfen aufgebrochen. Khairis Kopf war so schlimm verformt. Seine Arme standen ab. Obwohl er voller Kot und Blut war, drückte ich ihn an mich. Ich konnte nicht weinen. Nur zittern. Zu Hause wusch ich Khairi und massierte ihn, bis er sich beruhigt hatte. Irgendwann schlief er ein. Bis der Libyer nach Hause kam. Er war außer sich, weil ich Khairi geholt hatte. Bring ihn mir, schrie er.
Im Kerzenschein
Im Dezember, in Mössingen glitzern Weihnachtssterne über den Straßen, macht sich Gammel das erste Mal nach Hazms Tod auf den Weg nach Nürnberg. Im Kofferraum hat er einen Wäschekorb mit Geschenken, im Bauch ein seltsames Gefühl. Gammel hat viel darüber nachgedacht, wie Jaleela ihm wohl begegnen wird. Ob sie ihm Vorwürfe machen wird?
Sein Plan, ihre Söhne schnellstmöglich aus dem Flüchtlingslager nach Deutschland zu holen, stockt. Was nicht zuletzt an der veränderten Stimmung im Land liegt. Bei Anne Will und Maybritt Illner fallen sich in diesen Wochen Politiker zum Thema Familiennachzug ins Wort. Gammel weiß also nicht, wie lange es dauern wird. Was er allerdings weiß, ist, dass die Frau, die ihm an diesem Tag die Tür öffnet, Hilfe braucht. Jaleela wirkt wie ein Geist, bewegt sich langsam, weint schnell. Unter ihren Augen hat die Trauer schwarze Schatten gemalt. Und ihre Haare sehen aus, als seien sie länger nicht gewaschen worden.
In den Tagen, als Jaleela und die Kinder nach Hazms Tod nicht auffindbar waren, waren sie in Konstanz, bei Verwandten. Gammel glaubt, dass Konstanz für die Khuders vielleicht die Rettung sein könnte. Doch erst einmal muss er sich darum kümmern, die Jungs aus dem Irak zu holen. „Wir schaffen das alles, aber ein Problem nach dem nächsten“, sagt er immer wieder, als hätten er und Merkel denselben Pressesprecher.
Später, es ist schon Abend, besuchen er und die Khuders ein kurdisches Restaurant. Auf dem Tisch türmen sich gefüllte Paprika, Köfte, Hummus und eingelegte Tomaten. Khairi, der seinen blauen Ninja-Turtle-Pulli trägt, sitzt bei Gammel auf dem Schoß und sieht mächtig zufrieden aus.
Den ganzen Tag haben er und Gammel zusammen verbracht. Sie haben mit Khairis rotem Rennauto gespielt, waren auf dem Spielplatz und auf dem Weihnachtsmarkt. Auf dem Spielplatz gefielen Khairi die großen Steine, über die Gammel ihn hüpfen ließ. Auf dem Weihnachtsmarkt, wo es nach Glühwein und gebrannten Mandeln roch, die großen, runden Christbaumkugeln. Gammel musste Khairi hochheben, damit er sich darin spiegeln konnte.
Gammel gefiel vor allem Khairi. Wie er rannte, wie er sich interessierte. Fast wie ein normales Kind, dachte Gammel manchmal. Irgendwann an diesem Tag sagte Khairi sogar seinen ersten deutschen Satz zu Gammel. Gammel lachte laut, als er ihn hörte. Nur drei Worte. „Nicht die Brille.“
Dann kommt der Kellner, und Gammel ist praktisch das erste Mal an diesem Tag abgelenkt. Khairi streckt seine Hand aus und hält einen Finger in die Kerze vor sich. Eine Sekunde, zwei… „Mensch, Khairi, was machst du denn!“, ruft Gammel erschrocken und reißt Khairis Hand aus der Flamme. Khairi schaut ihn an, als wisse er nicht, worum es geht.
Jaleela: Bei den Folterungen durfte Khairi nicht schreien. Er machte sich in die Hose, er übergab sich, aber irgendwann gab er keinen Ton mehr von sich. Manchmal machte der Libyer Filme davon, wenn er mich oder Khairi quälte. Ich wusste nicht, was er damit wollte, aber ich spürte, wie mein Herz mit jedem Tag schwärzer wurde. Oft dachte ich an das Messer, dass der Libyer in einer Tasche aufbewahrte, aber hätte ich ihn nachts erstochen, wären meine Kinder verloren gewesen. Ich knüpfte mir heimlich einen Strick. Doch auch dann dachte ich an Hazm und meine Kinder. Ich wusste nicht weiter. Nachts, wenn alle um mich herum schliefen, betete ich, dass eine Rakete in unser Haus einschlägt. Ich stellte mir vor, dass nichts mehr bleibt. Nur noch Rauch. Irgendwann, nach über einem Jahr, klopfte es nachts an der Tür. Kämpfer standen dort. Sie sagten, dass der Libyer im Kampf getötet worden sei. Eine Granate. Sie zeigten mir ein Foto auf dem Handy. Splitter steckten in seinem Gesicht. Mein Glück war unvorstellbar. Ich dankte Gott für seine Gnade.
Die Beerdigung
Hazm, schreit Jaleela, immer wieder und wieder. Hazm, wo bist du? Zitternd und weinend steht sie auf dem Parkplatz vor dem Friedhof in der Provinz Dohuk. Sie reckt die Hände in den irakischen Himmel, an dem heute kein bisschen Blau zu sehen ist. Es ist Februar 2018, und die Trauerfeier für Hazm findet statt. In der Gruppe aus Verwandten, die Jaleela begrüßen und umarmen, ist auch Gammel zu sehen, der sie in den Irak begleitet hat. Nicht nur als Beistand. Sondern vor allem, um die Jungs zu holen. Die Pässe sind da. Endlich.
Gammel, der an diesem Tag eine Lederjacke trägt und ein bisschen aussieht wie ein Beamter auf einem Rockkonzert, läuft im Trauermarsch ein paar Reihen hinter Jaleela. Als ein Onkel, der das Ganze mit einer Kamera filmt, versucht, ihn dichter heranzuschieben, wiegelt Gammel ab. Nein, nein, das sei dann doch zu viel, sagen seine Augen. Dabei zögerte Jaleela nicht, als Gammel sie zum Trost umarmte. Sie krallte sich in seine Lederjacke. Gammel freute das sehr.
Bei seiner zweiten Reise in den Irak wirkt Gammel wieder wie ein Mann, der in seinem Element ist. Gammel hat das Gefühl, das Richtige zu tun, und das Richtige tut Gammel richtig gut. Es gibt eine Geschichte aus seiner Vergangenheit, die viel darüber erzählt, wie weit Gammel bereit ist, dafür zu gehen:
Zu Beginn seiner Karriere arbeitete Gammel als Assistenzarzt in einem Klinikum, in dem ein Chefarzt durch fragwürdige Methoden bei Herzkathetern den Tod mehrerer Patienten verursachte. In dem Krankenhaus, das den Arzt deckte, war Gammel der Einzige, der aufstand und den Mann anzeigte. Gammel war im Recht, doch der Schritt ruinierte seine Karriere. Wenn Gammel davon erzählt, kann man keine Wut hören. Aber Gammel ist auch ein Mensch, der nicht so schnell die Fassung verliert.
Jetzt allerdings, als er vor dem blumengeschmückten Grabstein von Hazm steht, zwischen klagenden Frauen und Jaleela, die sich davor auf die Erde geworfen hat, überkommt es ihn. Gammel weint. Erst ein paar Tränen. Dann immer mehr.
Die Zeremonie wird von einem Fernsehteam begleitet. Danach gibt es Interviews. Ein Freund von Hazm erzählt den kurdischen Journalisten von dem Arzt aus Deutschland, der heute hier ist. Der Mann, der Khairi gerettet hat. Der Mann, in dessen Schuld sie für immer stehen würden. Gammel schaut bescheiden zu Boden. Einen Arm hat er um Jaleela gelegt.
Rückblickend sagt Gammel, dass die Trauerfeier für einen deutschen Schwaben wie ihn eigentlich etwas zu „theatralisch“ gewesen sei. Doch am Grabstein sei eben einfach alles hochgekommen. „Ich war derjenige, der in ihr Leben eingegriffen und dafür gesorgt hat, dass sie ihren Mann vier Monate früher verlassen hat, als es der liebe Gott vorgesehen hatte.“
Später an diesem Tag sitzt Gammel in einem Zelt im Flüchtlingslager. Er hat zwei Liter süßen Tee getrunken und viel kurdisches Essen gegessen. Seine Wangen sind gerötet. Die Männer neben ihm tragen Schnurrbärte und rauchen Kette. Sie erzählen von Hazm. Von seinem Leben. Und von seinem Tod. Ein Onkel sagt: Das Problem sei, dass Hazm nicht mehr geschlafen habe. Ein anderer sagt: Das Problem seien die Videos gewesen, die Hazm nicht vergessen konnte.
Die Videos, die der Libyer ihm geschickt hat.
Nach und nach erfährt Gammel, dass der Libyer, der Jaleela und Khairi gequält hat, auch Hazm quälte. Jeden Tag seien die Anrufe gekommen. Erst habe Hazm aufgehört zu essen, dann zu schlafen, dann habe er angefangen zu trinken. Mit jedem Satz, den Gammel hört, verliert sein Gesicht mehr an Farbe. Irgendwann sagt einer: Wie konnte Jaleela ihn verlassen? Er wartet drei Jahre auf sie, und dann läuft sie davon. Die Männer nicken. Dann ist es eine Weile still. Nur das Geschrei der Jungen ist zu hören, die vor dem Zelt Fußball spielen.
Kurz darauf verlässt Gammel kreidebleich das Zelt. Als er eine halbe Stunde später zurückkehrt, erzählt er, dass er sich oben in den Bergen habe übergeben müssen. Das Essen. Er habe sich schon die ganze Zeit komisch gefühlt.
Jaleela: Nach dem Tod des Libyers wurden wir an einen anderen IS-Kämpfer verkauft. Er schlug uns nicht und gab uns Geld für Essen. Jedes Mal sparte ich heimlich etwas, bis ich mir nach ein paar Monaten ein Handy kaufen konnte. Als ich Hazm das erste Mal anrief, kam mir seine Stimme vor wie ein Wunder. Natürlich fragte er nach den Kindern. Nach Khairi. Ich erzählte ihm nur Gutes. Wie konnte ich sein Herz brechen?
Zurück
Am nächsten Abend, das Thermometer zeigt minus elf Grad, erreichen Gammel, Jaleela und ihre Söhne Nürnberg. Khairi ist noch wach, als seine Brüder und seine Mutter plötzlich im Türrahmen stehen. Doch statt zu ihnen tapst Khairi zu Gammel. Doktor, Doktor, murmelt er schlaftrunken und fällt Gammel in die Arme. Gammel hebt Khairi hoch und trägt ihn zurück ins Bett. Du bist mein kleiner Freund, flüstert er Khairi ins Ohr, bevor er sich auf den Heimweg macht. Gammel läuft in dieser Nacht zu Fuß zum Bahnhof.
Über diesen Spaziergang durch das ausgestorbene Nürnberg in einer viel zu dünnen Lederjacke sagt Gammel heute, dass ihn dabei eine Mischung aus Wehmut und Erleichterung überfiel. Einerseits das Gefühl: Uff. Geschafft. Andererseits so viel Zuneigung. Auch gegenüber Jaleela, von der Gammel nun endlich das Gefühl hatte, dass sie ihm vertraut. „Mir ist in dieser Nacht klar geworden, dass diese Geschichte in meinem Leben nicht mehr aufhören wird. Ich bin jetzt eine Art Onkel für die Familie. Da komme ich nicht mehr raus. Und das will ich auch gar nicht.“
Jaleela: Nach ein paar Monaten bekam ich von Hazm die Nummer des Schleusers, der uns aus der Stadt schmuggelte. Ich trug eine Burka, die Kinder versteckten wir unter Decken. Danach mussten wir allein über die Berge. Wir schliefen nachts an einem Fluss im Schlamm, denn es regnete in Strömen, und unsere Schuhe waren so nass, dass wir sie weggeworfen hatten. Die Kinder lagen weinend auf mir. Wir hatten so viel Angst, dass sie uns finden. Aber auch vor den Schlangen und den Minen. Trotzdem liefen wir am nächsten Tag weiter. Wir liefen und liefen und liefen. Einen Tag und eine Nacht. Als wir die kurdischen Soldaten im Nebel sahen, fielen wir vor Erleichterung auf den Boden. Unsere Müdigkeit war unendlich.
Aua
„Ihr müsst den Halm zwischen die Daumen nehmen und dann richtig, richtig doll pusten“, sagt Gammel. Vier Gesichter. Vier Fragezeichen. Es ist ein verschwitzter Sommertag fünf Monate später, und Gammel sitzt barfuß auf einer Wiese voller Pusteblumen. Aus seinem Mund baumelt ein Grashalm, weil Gammel versucht, Khairi und seinen Geschwistern Pfeifen beizubringen.
Heute morgen ist Gammel nicht nach Nürnberg aufgebrochen, sondern nach Konstanz gefahren, dorthin, wo die Khuders mittlerweile wohnen. Zusammen mit den Verwandten. Gammels wichtigster Sieg.
Die neue Unterkunft liegt am Rand der Stadt, neben einer Psychiatrie, zwischen grünen Feldern und dicken Eichen. Die Decken sind so hoch, dass man Trampolin springen könnte, und die Flure so lang, dass Khairi daraus eine Rennstrecke gemacht hat. Mit einem Laufrad, das Gammel mitgebracht hat, heizt Khairi durch die Gänge, auf denen es heute nach geschmorten Hähnchen und eingelegten Weinblättern riecht. Jaleela hat gekocht. Ein Dankeschön für Gammel.
Jaleela ist an diesem Samstag im Juni kaum wiederzuerkennen. Den ganzen Nachmittag hat sie mit Gammel herumgealbert. Sie hat von Khairi erzählt, seinen Fortschritten und wie viel ruhiger er mittlerweile sei. Auch das Zucken und die Krämpfe im Gesicht hätten aufgehört, sagt Jaleela. Sie lächelt. Gammel lächelt zurück.
Er ist an diesem Tag auch gekommen, weil endlich die Termine für Khairis Operationen feststehen. In ein paar Monaten, erst die Kniegelenke, dann die Hüfte. Gammel hat alles organisiert.
Fragt man ihn, was er sich für die Khuders nach den Operationen wünscht, antwortet er: für Khairi einfach eine „richtige Chance“. Für Jaleela, dass sie schnell Deutsch lerne. Gammel möchte Jaleela nämlich so viel sagen. „Ich möchte ausdrücken, wie sehr sie alle mir ans Herz gewachsen sind. Ich habe mich massiv in ihr Leben eingemischt und möchte sie fragen, ob ihr das überhaupt recht war“, sagt er.
Später an diesem Nachmittag spielt Gammel mit den Jungs Fußball auf einer Wiese hinter der Unterkunft. Weil seine Brüder finden, dass Khairi noch zu klein ist, muss er zugucken. Dann allerdings misslingt ein Abschlag, der Ball segelt durch die Luft, und Khairi sprintet los. Seine kurzen Beine flattern durch das hohe Gras – bis es ihn nach ein paar Metern kopfüber auf den Rasen haut. Gammel läuft sofort hin, um zu pusten. Doch Khairi sitzt einfach da und schaut an sich herunter. Er deutet auf das Knie, auf das er gefallen ist. Dann öffnet er den Mund. Gammel wird später sagen, dass er das kurze Wort, das Khairi ihm dann sagte, nie vergessen wird. Es klang noch ein bisschen seltsam. Aber das tun neue Worte ja immer. Aua, sagte Khairi Khuder zu Andreas Gammel.
Bitte helfen Sie, damit Khairi weiter behandelt werden kann. Die Stiftung stern leitet Ihre Spende weiter: IBAN DE90 2007 0000 0469 9500 01, BIC DEUTDEHH – Stichwort „Khairi“
Unser Autor Jonas Breng und die Fotografin Tamina- Florentine Zuch begleiteten Andreas Gammel über fast zwei Jahre. Die Interviewpassagen von Jaleela sind Auszüge aus zehn Stunden Gesprächsmaterial, die in Nürnberg und Konstanz entstanden. Von Khairis Fortschritten sind Breng und Zuch genauso berührt wie Gammel.
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