Was die Bundestagsfraktionen gerade in Sachen Wahlrechtsreform erleben, dürfte den einen oder anderen Abgeordneten in sein Studium zurückversetzen: Monate vorher schon ist der Abgabetermin für die Hausarbeit klar – und dann ist der Zeitraum über Nacht auf Wochen, Tage, Stunden zusammengeschrumpft. So ähnlich ist es mit der Wahlrechtsreform.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) gab schon im Mai 2018 das Ziel einer Überarbeitung des Wahlrechts aus. Und als hätte man es nicht kommen sehen können, ist es plötzlich Ende Juni im Jahr 2020, und der Bundestag steht kurz davor, in die Sommerpause zu gehen – ohne neues Wahlrecht.

Damit droht Deutschland ein weiter aufgeblähter Bundestag nach der Wahl im Herbst 2021. Denn das deutsche Parlament ist zu groß, darüber immerhin sind sich alle Fraktionen einig. 630 Abgeordnete waren es in der vergangenen Legislaturperiode, seit 2017 sind es 709 – vorgesehen sind nur 598. So mancher fürchtet ein weiteres Anschwellen auf 800 oder mehr Abgeordnete.

Quelle: Infografik WELT

Grund für das Wachstum ist ein Ausgleich der Überhangmandate, auf den sich der Bundestag 2013 einigte. Ein Jahr zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht das bis dahin geltende Wahlrecht als verfassungswidrig bewertet: Überhangmandate – also wenn eine Partei mehr Direktmandate (Erststimme) gewinnt, als ihr gemessen am Ergebnis der Zweitstimmen zustehen würden – müssen für die übrigen Fraktionen ausgeglichen werden, selbst wenn das Parlament immer weiter wächst.

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Und so ist – kurz vor knapp – noch einmal hektische Betriebsamkeit unter den Abgeordneten entbrannt. Grüne, Linke und FDP wollen am Freitag über einen bereits seit Längerem vorliegenden Vorschlag abstimmen, wie das Wahlrecht doch noch geändert werden kann. Die Spitze der Unionsfraktion hat am Wochenende einen eigenen Plan vorgestellt, der allerdings auf heftigen Widerstand bei Teilen der CSU stößt. SPD-Bundestagsvize Thomas Oppermann will notfalls für den Vorschlag der Opposition stimmen – selbst wenn das zum Krach mit dem Koalitionspartner führt. Wie noch kurzfristig eine Lösung gefunden werden soll, ist derzeit offen. Klar ist: Gibt es keine Einigung, droht ein Mega-Parlament – mit Platzproblemen, Glaubwürdigkeitsproblemen und zusätzlichen Kosten.

„Wenn wir in dieser Woche keine Reform des Wahlrechts verabschieden, droht ein XXL-Bundestag, der mit mindestens 800 Abgeordneten kaum arbeitsfähig, aber teuer wird“, sagte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann, WELT. „Von den Räumlichkeiten bis zur Tagesordnung und Debattenzeit stoßen wir schon heute an Kapazitätsgrenzen.“

Parlamentsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) sieht akute Platzprobleme, sollte der Bundestag weiter wachsen: Teile der Verwaltung müssten dann in Container umziehen oder weit abseits des Regierungsviertels untergebracht werden. Auch die inhaltliche Arbeit des Bundestags würde beeinträchtigt: „Wegen der Tatsache, dass vor allem in den großen Fraktionen jeder Abgeordnete eine angemessene Aufgabe übernehmen soll, müssen Themenbereiche immer kleinteiliger geschnitten werden. Für eine sinnvolle Lösung von politischen Problemen wäre das in jedem Falle nachteilig.“

Es ist ein Problem, das schon nach der vorigen Bundestagswahl 2017 offenbar wurde: 79 zusätzliche Abgeordnete mussten damals untergebracht werden. Einige der Neulinge zogen notgedrungen in das ehemalige Reichsinnenministerium, von einer „Legebatterie“ sprach damals ein AfD-Abgeordneter.

Der Justiziar der Linksfraktion im Bundestag, Friedrich Straetmanns, warnt zudem vor einer zusätzlichen Behäbigkeit des Parlaments: „Es wird ein Platzproblem und eine Verzögerung bei den parlamentarischen Prozessen geben. Je mehr Leute mitreden, desto mehr verzögert sich die Behandlung eines Themas.“

Dass der Bundestag nun abermals größer wird, hält der Staatsrechtler und Professor an der Universität Heidelberg, Bernd Grzeszick, der auch Beurteilungen für den Bundestag vornimmt, für sehr wahrscheinlich. Die großen Parteien – vor allem die SPD, aber auch die CDU – seien kleiner geworden, die Grünen dafür größer.

Knapp die Hälfte der Erstwähler würde grün wählen

In der aktuellen Forsa-Umfrage zeigen die Daten der Meinungsforscher die Grünen als Wahlgewinner. Außerdem würde knapp die Hälfte der Erstwähler ihre Stimme den Grünen geben.

Quelle: WELT

Zudem habe sich die AfD als weitere Partei etabliert. „Diese Ausdifferenzierung führt in Verbindung mit dem geltenden Wahlrecht, das für Überhangmandate proportionale Ausgleichsmandate vorsieht, zu einem Anwachsen des Bundestages“, sagte Grzeszick WELT.

Dass die interne Koordination zwischen den Abgeordneten leiden könne, sei nicht auszuschließen. „Allerdings funktioniert der Bundestag mit 709 Abgeordneten offenbar, und es ist nicht konkret erkennbar, weshalb dies mit 800 Abgeordneten grundlegend anders sein sollte“, gab Grzeszick zu bedenken. Auch sei der Kostenanteil am Bundeshaushalt im Vergleich „sehr klein“.

Zusätzliche Kosten kritisiert etwa die AfD-Fraktion. „Die Bundestagsverwaltung wird mehr Personal einstellen müssen, um die parlamentarischen Initiativen der Abgeordneten abzuarbeiten“, warnte der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann. Denn schon in der vergangenen Legislaturperiode habe sich die Zahl der Initiativen deutlich erhöht. „Den Steuerzahlern ist die Aufblähung des Bundestags nicht zu vermitteln“, so Baumann weiter.

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„Ich halte es für unsäglich, dass die Fraktionen eine dringend nötige Reform des komplizierten Wahlrechts mit seinen Überhang- und Ausgleichsmandaten verschleppen – das Nachsehen haben die Wähler und Steuerzahler“, so der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Reiner Holznagel. Der Interessenverband hat nachgerechnet: 800 Abgeordnete würden demnach zusätzlich 64 Millionen Euro jährlich kosten – und bereits jetzt ist das Parlament der Berechnung zufolge schon 78 Millionen Euro teurer, als dies bei der gesetzlichen Sollgröße der Fall wäre.

Holznagel gibt zudem zu bedenken, dass in dieser Prognose nicht die Mehrkosten in der Bundestagsverwaltung – also beispielsweise die Unterbringung zusätzlicher Abgeordneter und ihrer Mitarbeiter –, sondern lediglich „mandatsbezogene“ Kosten wie Diäten, Mitarbeiterpauschalen oder Dienstreisen eingerechnet seien. „Wie hoch die Gesamtkosten eines so großen Bundestags wären, kann man heute gar nicht beziffern, weil es zu viele Variablen gibt“, sagt Holznagel. Ein größerer Bundestag verursache aber nicht nur zusätzliche Kosten, sondern habe auch „keinen parlamentarischen Mehrwert“. Der Bund der Steuerzahler fordert deswegen eine Begrenzung auf 500 Bundestagsmandate.

Wenn diese Woche keine Einigung im Bundestag zustande kommt, ist es zumindest fraglich, ob es ein neues Wahlrecht rechtzeitig geben wird. Denn dem Verhaltenskodex der Venedig-Kommission des Europarats zufolge soll das Wahlrecht ein Jahr vor einer Wahl nicht mehr geändert werden – mit Blick auf den spätesten Termin für die Bundestagswahl 2021 müsste das Wahlrecht also bis zum 24. Oktober geändert sein. Eine grundlegende Reform nach der Sommerpause, also ab September, durchzupeitschen, gilt als unrealistisch. Schon ist von einem „Notfallmechanismus“ die Rede.

So sieht etwa der Vorschlag von Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) eine Übergangslösung vor. Mehr als 750 Abgeordnete soll der Bundestag in der kommenden Legislaturperiode nach seiner Vorstellung nicht zählen. Würden es durch die Wahl doch mehr, sollte im Wechsel jeweils ein Überhangmandat nicht kompensiert und ein Direktmandat gestrichen werden. In der Konsequenz könnten allerdings Abgeordnete am Einzug in den Bundestag gehindert werden, obwohl sie ihren Wahlkreis gewonnen haben – für die CSU und auch Teile der CDU ein No-Go.

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„Der Vorschlag mit einer Kappung von Wahlkreisen ist verfassungswidrig und damit inakzeptabel“, sagte etwa der CDU-Abgeordnete Fischer. Die SPD begrüßte zwar die vorgesehene Deckelung der Mandate als „geeignete Grundlage“ für einen Kompromiss. „Allerdings sollte die Obergrenze, ab der Mandate nicht mehr zugeteilt werden, nicht über der derzeitigen Bundestagsgröße liegen“, sagte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Carsten Schneider. Die SPD hatte selbst eine Begrenzung bei 690 Mandaten vorgeschlagen – war damit allerdings ebenfalls auf Widerstand gestoßen.

Auch die Grünen lehnen den Vorschlag von Brinkhaus ab. „Was an einem Vorschlag, als sogenannter Notfallmechanismus, der eine Begrenzung auf 750 Abgeordnete vorsieht, eine Reform sein soll, versteht niemand“, sagt die Parlamentarische Geschäftsführerin Britta Haßelmann. „Das wären noch mal 41 Abgeordnete mehr als derzeit im Bundestag sind und 152 Abgeordnete über der jetzt geltenden Sollgröße des Bundestages, wie sie heute im Wahlgesetz steht.“

Stattdessen schlagen die Grünen mit FDP und Linkspartei unter anderem eine Reduzierung der Wahlkreise vor. Bislang stieß die Idee bei den Koalitionsfraktionen auf wenig Gegenliebe. Die Opposition hat nun allerdings beantragt, den Fraktionszwang für die Abstimmung am Freitag aufzuheben. Inzwischen sorgt der Druck für Bewegung: Am Montag legte die CSU einen Kompromissvorschlag vor und signalisierte erstmals Bereitschaft, mittelfristig die Zahl der Wahlkreise reduzieren zu wollen – allerdings erst ab 2025.

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